EU will Richtertausch in Polen sofort stoppen
24. September 2018Der nächste Schritt auf der Eskalationsleiter war keine Überraschung. Da die polnische Regierung sich weigert, auf die Bedenken der EU-Kommission gegen ihre Justizreform eingehen, glaubt die Kommission keine andere Wahl zu haben, als vor Gericht zu ziehen. Der polnische Europaminister Konrad Szymanski hatte vergangene Woche bei einer Sitzung des Ministerrates in Brüssel noch einmal klar gemacht, dass die polnische Regierung an der umstrittenen Zwangspensionierung von Obersten Richtern festhalten will.
Deshalb hat die EU-Kommission an diesem Montag beschlossen, Klage beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einzureichen, weil Polen die Unabhängigkeit der Gerichte nicht mehr gewährleistet. Die ist aber in den Europäischen Verträgen zwingend vorgeschrieben. "Polen kommt seinen Verpflichtungen nicht nach", bemängelte die Sprecherin der EU-Kommission, Mina Andreeva, in Brüssel. "Die EU-Kommission ist weiter der Auffassung, dass Polens Gesetz zum Obersten Gericht unvereinbar mit europäischen Recht ist, da es die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlt und gegen das Prinzip verstößt, dass Richter nicht vorzeitig abgelöst werden können."
Sollen unliebsame Richter in Rente gezwungen werden?
Die polnische Regierung hat seit Juli zwei Gelegenheiten, zu den Vorwürfen dezidiert Stellung zu nehmen und Maßnahmen zur Änderung der Gesetzeslage zu ergreifen, verstreichen lassen. Das sogenannte "Vertragsverletzungsverfahren" sieht deshalb vor, dass der Europäische Gerichtshof nun entscheiden muss. Die EU-Kommission bemängelt als "Hüterin der Europäischen Verträge", dass in Polen Richterinnen und Richter am Obersten Gericht statt mit 70 Jahren jetzt mit 65 Jahren in den Ruhestand geschickt werden. Von dieser Regelung sind 27 der insgesamt 72 derzeit amtierenden Richter betroffen, darunter auch die Präsidentin des Gerichtshofes. Malgorzata Gersdorf hatte mehrfach erklärt, dass sie ihre Zwangspensionierung nicht anerkennt, sondern weiterhin zur Arbeit erscheinen will. Vergangene Woche hatte sich der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki mit Gerichtspräsidentin Gersdorf getroffen, um Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten. Das war vom Sprecher des Gerichts als erstes Zeichen guten Willens gewertet worden. Das Oberste Gericht in Polen hatte sich selbst auch schon an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gewandt und darum gebeten, das Richtergesetz zu überprüfen.
Die EU-Kommission und die Opposition in Polen vermuten, dass die regierende Partei PiS auf diesem Weg unliebsame Richter loswerden und die freiwerdenden Posten mit genehmen Kandidaten besetzen will. Die polnische Regierung besteht darauf, dass die PiS-Mehrheit im polnischen Parlament den Justizapparat so gestalten kann, wie sie es für richtig hält.
Einstweilige Anordnung soll Schaden abwenden
Die EU-Kommission hat in Luxemburg eine einstweilige Anordnung beantragt, um die Zwangspensionierung von Richterinnen und Richtern sofort zu stoppen, damit kein "irreparabler Schaden" im Laufe des Verfahrens entsteht. Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda hatte vergangene Woche damit begonnen, zehn neue Richter am Obersten Gerichtshof zu ernennen, die zwangspensionierte Kollegen ersetzen sollen.
Außerdem möchte die EU-Kommission erreichen, dass die Luxemburger Richter am EuGH in einem Eilverfahren entscheiden, um die Rechtslage möglichst schnell zu klären. Ob der Gerichtshof tatsächlich mehr Tempo machen will, muss jetzt dessen Präsident entscheiden. Sollte Luxemburg am Ende des Verfahrens der Kommission Recht geben, würde die polnische Regierung aufgefordert, die Pensionierungen am Obersten Gericht in Warschau rückgängig zu machen. Sollte sich die polnische Regierung dann immer noch stur stellen, wäre die Verhängung von empfindlichen Geldstrafen möglich. Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Polen würden zurückgehalten. Polen ist zurzeit der größte Nutznießer des gemeinsamen EU-Haushalts.
Polen wegen Rechtsstaatlichkeit unter Druck
In den vergangenen Jahren ist bereits der polnische "Landesrat für das Gerichtswesen" nach dem Gusto der PiS umgebaut worden. Ebenso wurden an niederen Gerichten und am Verfassungsgericht umstrittene Reformen durchgesetzt. Die neuerliche Klage der EU-Kommission gegen Polen muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Kommission die Rechtsstaatlichkeit in Polen insgesamt in ernster systematischer Gefahr sieht. Deshalb hat der zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans im letzten Dezember ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrages eingeleitet. Dieses Verfahren befindet sich noch im Anfangsstadium. Der Ministerrat - also die übrigen 27 EU-Mitgliedsstaaten - ist dabei, Polen zu den Vorwürfen anzuhören. Eine erste formale Abstimmung, die nötig wäre, um das Verfahren voranzutreiben, ist bislang noch nicht geplant. Die Mitgliedsstaaten sind eher zögerlich, gegen ein anderes Mitgliedsland vorzugehen. EU-Diplomaten gehen davon aus, dass es vor den Europawahlen im Mai kommenden Jahres auch nicht mehr zu einer Abstimmung kommen wird. Das Artikel 7-Verfahren, das parallel zu dem heute angestrengten Gerichtsverfahren in Luxemburg abläuft, ist so noch nie angewendet worden. Es könnte ganz am Ende zu einer Einschränkung der Stimmrechte Polens und damit zu einer faktischen Suspendierung der Mitgliedschaft kommen.
Auch Ungarn am Pranger
Das Europäische Parlament hatte vergangene Woche beantragt, auch gegen das EU-Mitgliedsland Ungarn ein Artikel 7-Verfahren wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit zu eröffnen. Ungarn verletzt nach Auffassung des Parlaments, die Freiheit der Medien, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung sowie weitere Grundrechte. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hatte die Vorwürfe in Straßburg in der Plenarsitzung zurückgewiesen.
Der Gegenwind aus der EU für Polen und Ungarn wird insgesamt rauer. EU-Diplomaten sorgen sich aber, dass es irgendwann zur wirklichen Nagelprobe für die EU kommen könnte. Was passiert, wenn Polen oder Ungarn abschließende Urteile des Europäischen Gerichtshofes oder des Ministerrates in den laufenden Verfahren nicht anerkennen? Einen Präzedenzfall gibt es bereits. Polen und Ungarn weigern sich, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Verteilung von Flüchtlingen aus dem Jahr 2017 umzusetzen. Die EU-Kommission hat deshalb auf dem Klageweg Zwangsgelder gegen die beiden Staaten beantragt. Ein Beschluss aus Luxemburg hierüber steht noch aus.