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EU will sich neue Schuldenregeln geben

14. September 2023

Die EU-Finanzministerinnen und -minister beraten am Freitag ihre Strategie: Wie umgehen mit den Staatsschulden, und wie holt man Deutschland aus der Rezession? Aus Santiago de Compostela berichtet Bernd Riegert.

BG Pilgerreisen | Spanien | Kathedrale in Santiago de Compostela
Kathedrale von Santiago de Compostela: Ziel Tausender Pilger und der EU-FinanzministerBild: Toni Vilches/IMAGO

Die spanische Ratspräsidentschaft der Europäischen Union hat die Finanzministerinnen und Finanzminister nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens eingeladen.

"Klare Gedanken, Demut und Erleuchtung", meinte ein lächelnder spanischer EU-Beamter, könnten sich die Minister erhoffen, wenn sie in die Stadt pilgerten, wo allein im letzten Jahr 400.000 gläubige Wanderer am Ende des berühmten Jakobswegs das Grab des Apostels Jakobus besuchten.

Einige der Minister und Notenbankchefs der 27 EU-Länder werden das Abbild der Kathedrale des Pilgerortes in ihrer Tasche tragen, denn Santiago de Compostela ist als nationales Symbol auf der spanischen Eurocent-Münze eingeprägt.

Die Münze ist nur einen Cent wert, doch ihre symbolische Bedeutung ist riesig. Die Kathedrale von Santiago de Compostela ist ein Schmuckstück spanisch-romanischer Baukunst und einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der WeltBild: EZB

Regeln neu fassen

Die Gastgeberin, die spanische Wirtschaftsministerin Nadia Calviño, ist zwar seit den mit einem Patt geendeten Neuwahlen vom Juli nur noch geschäftsführend im Amt, hat sich aber vorgenommen, eine ernsthafte Diskussion über reformierte Schuldenregeln für die EU zu starten. Die Zeit wird knapp. Bis Ende des Jahres sollte eigentlich eine Lösung auf dem Tisch liegen.

Doch das wird schwierig, meinen viele Ökonomen, denn die Vorstellungen der südlichen und nördlichen EU-Länder, denen, die eher Schulden machen, und jenen, die eher sparen wollen, liegen weit auseinander. Der für Wirtschaft zuständige EU-Kommissar Paolo Gentiloni sagte am Montag in Brüssel, der "Stabilitäts- und Wachstumspakt" müsse nächstes Jahr wieder gelten.

Der Pakt, der drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Obergrenze der Neuverschuldung vorschreibt, war wegen der Corona-Krise 2020 ausgesetzt worden. Dreimal war die Aussetzung verlängert worden, zuletzt wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Die Staatsverschuldung ist in vielen EU-Staaten stark angestiegen. Sie liegt im Mittel jetzt bei 90 Prozent des BIP, erlaubt sind eigentlich nur 60 Prozent.

EU-Kommissar Paolo Gentiloni: Schuldenregeln sollen flexibler werden (Archiv)Bild: TT News Agency/Caisa Rasmussenvia REUTERS

Hunderte Milliarden wurden, auch in Deutschland, für Ausgleichszahlungen, Subventionen und Rüstungskäufe mit Schulden finanziert. Damit müsse jetzt Schluss sein, fordert EU-Kommissar Gentiloni.

"Unsere Aufgabe ist jetzt nicht, an einer weiteren Verlängerung der Aussetzung zu arbeiten, sondern unsere Aufgabe ist es, uns auf fiskalische Regeln bis zum Ende des Jahres zu einigen", mahnt Gentiloni.

Deutschland ist skeptisch

Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, die Ziele des Stabilitätspaktes, der die Gemeinschaftswährung Euro absichern soll, unangetastet zu lassen, also maximal drei Prozent des BIP als Neuverschuldung und 60 Prozent als Gesamtverschuldung.

Allerdings sollen die Mitgliedsstaaten mehr Zeit bekommen, um Schulden abzubauen, und nicht mehr mit harten Geldstrafen bedroht werden, wenn sie vom finanzpolitischen Tugendpfad abweichen. Außerdem soll die Tragfähigkeit der Schulden in jedem Einzelfall von der EU-Kommission beurteilt werden.

Manche Staaten, wie Italien oder Frankreich, drängen darauf, dass Schulden, die für Investitionen in grüne, zukunftsweisende Projekte aufgenommen werden, aus dem nationalen Schuldenberg herausgerechnet werden.

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner gab sich bisher zurückhaltend. Davon, dass es keine klaren Leitlinien, sondern einzelne Verhandlungen der EU-Kommission mit den Schuldnerländern gibt, hält er wenig. Rückendeckung erhielt er vom Bundesrechnungshof, der in einem Bericht die vorgeschlagenen neuen Schuldenregeln für ungenügend hält.

"Die Reform der EU-Fiskalregeln wird die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in der Europäischen Union nicht sichern. Es fehlen verbindliche Vorgaben, die den Abbau zu hoher Schulden zügig und nachhaltig sicherstellen", schrieben die Rechnungsprüfer in einem Gutachten für den Bundestag im Juni.

Deutscher Finanzminister Lindner (li.) und Frankreichs Minister Le Maire: Nicht immer einer Meinung (Archiv)Bild: Michal Cizek/AFP

Guntram Wolff, Ökonom und Chef der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, beobachtet und berät seit vielen Jahren den Rat der EU-Finanzminister. Er geht davon aus, dass bei allen Staaten die Einsicht gereift ist, dass der alte starre Stabilitätspakt nicht mehr in die Zeit passt.

Allerdings sei noch umstritten, wo genau die neuen Leitplanken verlaufen sollen. "Natürlich müssen die Minister jetzt recht konkret werden, und auch die Tragfähigkeitsanalyse ganz konkret festzurren, mit konkreten Zahlen", so Wolff. "Das wird noch eine schwierige Verhandlung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man zum alten Pakt zurückgeht."

Eine Rückkehr zum alten Pakt, der vor allen von südlichen EU-Staaten abgelehnt wird, würde quasi automatisch erfolgen, wenn seine rechtliche Aussetzung Ende des Jahres ausläuft. Diese Drohung brachte Bundesfinanzminister Christian Lindner immer mal wieder ins Spiel, um den Verhandlungspartnern Beine zu machen.

Deutschland schrumpft, die EU sorgt sich

Doch Deutschland sollte im Kreise der Finanzminister in Santiago de Compostela nicht zu breitbeinig auftreten, kritsieren EU-Beamte in Brüssel. Schließlich ist die deutsche Wirtschaft im Moment der Bremsklotz in Europa.

EU-Kommissar Gentiloni bescheinigte Deutschland Anfang der Woche in seiner Herbstprognose, es ist Schlusslicht in Europa. "Die deutsche Wirtschaft ist im Moment in einem leichten negativen Wachstum. Das bleibt in diesem Jahr auch so. Wir wissen, dass mehr privater Konsum die Lage verbessern könnte. Strukturelle Probleme lassen sich aber nicht innerhalb weniger Wochen lösen."

Natürlich habe die schlechte Lage in Deutschland als größter Volkswirtschaft in Europa Auswirkungen auf alle anderen Länder, so Gentiloni, besonders auf jene, die - wie etwa Italien - viel nach Deutschland exportierten.

Der Ökonom Guntram Wolff sieht in Deutschland eine ganze Reihe von strukturellen Problemen, zu hohe Energiepreise, einen Mangel an Fachkräften, überbordende Bürokratie. Gleichzeitig tue Finanzminister Lindner aber gut daran, den Bundeshaushalt zu konsolidieren. Das sei letztlich auch gut für die Eurozone.

Es komme jetzt darauf an, wie schnell Deutschland das mache. Kürzen und Sparen könne die Rezession noch verstärken. Ausgeben und investieren könne die Inflation anheizen, die immer noch zu hoch sei, so Wolff.

Inzwischen macht wieder das Bild von Deutschland als "kranker Mann Europas" vor der Finanzministertagung in Santiago de Compostela die Runde. Das hält Guntram Wolff für übertrieben.

"Deutschland ist auf jeden Fall ein Mann mit Problemen. Sehr krank ist er vielleicht nicht, aber mit ein paar Problemen schon. Sicherlich aber nicht ein kranker Mann, wie er das zur Zeit Schröders war", meint der Wirtschaftsfachmann.

Er spielt damit auf die Zeit vor zwanzig Jahren an, als Bundeskanzler Gerhard Schröder regierte und zu einer Wirtschaftskrise auch noch eine Massenarbeitslosigkeit mit entsprechend hohen Kosten für die Sozialversicherungssysteme kam.

Rezession: Wenn in Deutschland die Kräne stilstehen, leiden auch EU-Länder, weil die deutsche Nachfrage sinktBild: Maximilian Koch/picture alliance

Frankreich: gemeinsam investieren

Der französische Finanzminister Bruno Le Maire hat bei einem Besuch in Berlin am Mittwoch für eine gemeinsame Wachstumsstrategie Frankreichs und Deutschlands geworben.

"Die Unternehmen erwarten klare Botschaften von unseren beiden Regierungen", sagte Le Maire der Wirtschaftszeitung Handelsblatt. Der Abbau von Staatsschulden dürfe kein Selbstzweck sein. "Haushaltsregeln und Schuldenabbau sind für mich sehr wichtig, aber die Voraussetzung ist, dass wir uns die Fähigkeit für Investitionen erhalten."

In Santiago wollen Deutschland und Frankreich möglichst eine geschlossene Linie präsentieren, auch wenn die Auffassungen in vielen Fragen unterschiedlich sind, heißt es von EU-Diplomaten. Le Maire drückt es so aus: "Wenn es Deutschland gut geht, geht es Frankreich auch gut - und umgekehrt."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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