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Eugenides: Grass als Vorbild

Michael Knigge / CH 14. April 2015

Der amerikanische Autor und Pulitzer-Preisträger Jeffrey Eugenides spricht im DW-Interview über den Einfluss von Günter Grass auf sein eigenes Werk und auf das seiner Schriftstellerkollegen in den USA.

Jeffrey Eugenides Foto: "picture alliance/Effigie/Leemage
Bild: picture alliance/Effigie/Leemage

DW: Wie sind Sie zum ersten Mal in Kontakt mit Grass' Büchern gekommen - und wie hat Sie das beeinflusst?

Jeffrey Eugenides: Die Sache mit Günter Grass' Werk und meinem eigenen ist interessant: Es hat mich gelehrt, dass man manchmal den Einfluss von Schriftstellern in sich aufnimmt, die man gar nicht gelesen hat, und zwar durch Übertragung und Osmose.

Mein Roman "Middlesex" entstand aus einer Tradition, deren Ende mir bewusst war. Das war das Buch "Mitternachtskinder" von Salman Rushdie. Rushdie hat sicher viel von Günter Grass und besonders von der "Blechtrommel" gelernt.

Zu diesem Zeitpunkt war ich mehr mit Rushdies als mit Grass' Werk vertraut. Später habe ich mich eingehender mit der "Blechtrommel" beschäftigt und dabei erkannt, wie viel Rushdie von Grass gelernt hat und welche Inspiration er für ihn war bei der Erschaffung eines spektakulären Helden und indem er die Taten dieses Helden in die Geschichte einwebt - in Rushdies Fall Indien, bei Grass natürlich Deutschland, in meinem Fall ging es um Amerika und die Einwanderung von Griechen aus Kleinasien.

Ich weiß nicht, worauf Grass zurückgriff. Schriftsteller erben immer Dinge von ihren Vorgängern. Ich glaube, er hat eine Menge von Kafka geerbt. Ich habe gemerkt, dass ich in einer langen Tradition arbeitete, die sich sozusagen irgendwo im Nebel verlor, und ich wusste nicht, wo sie herkam. Aber ich fühle mich von ihm beeinflusst, zwar irgendwie aus der Ferne, aber doch in bedeutsamer Weise.

Wie bewerten Sie Grass' Einfluss auf die amerikanische Gegenwartsliteratur allgemein?

Das ist schwerer zu sagen. Als ich heranwuchs, war Grass in den Vereinigten Staaten sowohl kulturell als auch politisch eine wichtige Figur. Aber die 1970er Jahre waren auch eine Zeit, in der es normal war, dass Schriftsteller politisch Stellung bezogen und manchmal Agitatoren oder Unruhestifter waren.

Wir hatten bei uns Grace Paley, die Donald Barthelme als große Unruhestifterin bezeichnete. Grass war so eine ähnliche Figur. Ich glaube also, Grass war für amerikanische Schriftsteller ein Beispiel, wie man sowohl eine politische als auch eine literarische Figur sein kann.

Seine bekanntesten Bücher in den USA sind "Die Blechtrommel", "Katz und Maus" und einige andere. Aber wenn man bei jemandem zuhause das Buch "Der Butt" im Regal stehen sah, dann hatte man das Gefühl, das hier ist europäische Literatur, die Geschichte aufarbeitet, die sozusagen die Sünden der Väter aufarbeitet.

Ich glaube, er war in diesem Sinne ein Beispiel für amerikanische Autoren, dass sie, wenn sie wirklich ernsthafte Schriftsteller sein wollten, sich ihre Nation, ihr Land und seine Politik ansehen sollten, dass sie so anti-patriotisch und so anspruchsvoll wie möglich in ihren Beschreibungen und der Betrachtung der amerikanischen Geschichte sein sollten.

Apropos politisches Engagement: Vor drei Jahren veröffentlichte Grass das politische Gedicht "Was gesagt werden muss", in dem er Israel vorwirft, eine Gefahr für den Weltfrieden zu sein. Das Gedicht sorgte für einen Aufschrei. Wie denken Sie über Grass' politische Äußerungen?

Man muss sagen, dass er dabei in vielen Dingen falsch lag. Es gab das berühmte PEN-Treffen in New York, als er in einen Streit mit Saul Bellow geriet. Grass kriegte wegen vieler Dinge Schaum vor dem Mund, nicht immer hatte er Recht.

Im Rückblick betrachtet, war es gut, dass er da war und dass es einen gab, der das tat, was er tat. Ich denke, wenn es um seine Ideale ging - seinen Argwohn gegenüber einer kapitalistischen Gesellschaft, die außer Kontrolle gerät, gegenüber Nationalismus, um sein Ziel einer Art Weltbürgerschaft - da lag er richtig.

Wenn er aber ganz konkret zu verschiedenen Dingen seine Meinung sagte, hatte er oft Unrecht. Die Zeit wird ihr Urteil fällen, aber ich glaube, dass er mit seinem Urteil zum Beispiel zur deutschen Einheit Unrecht hatte.

Seine Israel-Kritik hat einiges für sich. Seine eingesetzten Mittel und seine Worte mögen aufrührerisch gewesen sein, aber er ist nicht der einzige, der sich um den Nahen Osten Sorgen macht. Man sollte ihn also nach seinen guten Positionen bewerten und nicht nach seinen etwas sprunghaften und leicht verrückten. Insgesamt jedenfalls war es gut, dass er den Kampf führte, den er führte.

Eine große Kontroverse hat Grass auch ausgelöst, als er zugab, im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gewesen zu sein. Kritiker fragten, warum er so lange damit gewartet hatte. Was ist Ihre Meinung dazu?

Es war ein Schock für mich - wie für viele andere. Als ich in Deutschland lebte, wunderte ich mich darüber, wenn ich ältere Menschen traf, wie viele von ihnen behaupteten, nur als Flakhelfer beim Schutz ihres Heimatlandes geholfen zu haben. Es schien, als sei jeder nur bei einer ziemlich pazifistischen Art von Landesverteidigung tätig gewesen. Es hat mich also nicht gewundert, dass Grass' Rolle im Krieg doch eine größere gewesen war.

Ich glaube, was ihn gerettet hat, war, dass er es selbst zugegeben hat. Wenn so etwas herauskommt, dann finden es fast immer andere heraus, immer häufiger geschieht das heute durch das Internet. Er war ein Mensch, der an Sühne glaubte, und daran, Schuld zu benennen. Erstaunlich ist, wie lange er das Geheimnis wahrte. Aber am Ende hat er sich offenbart und einen unglaublich hohen Preis dafür gezahlt.

Wenn Sie sich jetzt seinen Nachruf in der New York Times ansehen, dann steht dies ganz am Anfang. Er hat sein Leben lang Bücher geschrieben, er hat den Literaturnobelpreis bekommen, und dann geht es vor allem um diese Geschichte.

Das heißt, er hat damit alles riskiert und wurde für viele Leute eine persona non grata. Ich glaube, das zeugt von sehr viel Mut.

Warum er es zugegeben hat, weiß ich nicht, aber es hat ihm wohl bei dem Versuch geholfen, das moralische Gewissen Deutschlands zu sein. Vielleicht wäre er nicht das moralische Gewissen geworden, das er wurde, wenn er sich nicht offenbart hätte.

Ich glaube, er hat dafür gekämpft, dass Deutschland sich seiner Vergangenheit stellte. Deutschland ist darin vorbildlich - und Grass hatte daran Anteil. Und gegen Ende brachte er die gleiche Ehrlichkeit in sein eigenes Leben. Er tat es spät, aber er tat es selbst. Wir müssen es nicht jetzt nach seinem Tod herausfinden.

Jeffrey Eugenides ist Autor und Professor an der Universität Princeton. Für seinen Roman "Middlesex", den er hauptsächlich in Berlin schrieb, wo er fünf Jahre lang lebte, erhielt er den Pulitzer-Preis. Sein erster Roman "Die Selbstmord-Schwestern" wurde auch verfilmt.

Das Gespräch führte Michael Knigge.

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