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Politik

EuGH: Der Krieg der Richter

Barbara Wesel mit Lucia Schulten
20. Mai 2020

Der Europäische Gerichtshofs hat sich zunehmend zur zentralen Instanz der Rechtsprechung in Europa entwickelt. Doch immer wieder gibt es Konflikte: Denn wo verläuft die Grenze zwischen Europarecht und nationalem Recht?

Europäischer Gerichtshof in Luxemburg
Bild: picture-alliance/dpa/A. I. Bänsch

In den fünfziger Jahren ging es um Kohle und Stahl: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg befasste sich vor allem mit Wirtschaftsfragen, wurde er doch 1952 durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet. Viele Jahre spielte er bei anderen rechtlichen Angelegenheiten kaum eine Rolle.

Im Laufe der Jahrzehnte aber entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft zu einer politischen Union. Damit wuchs der Bereich der europarechtlichen Regelungen, bei denen die obersten Richter in Luxemburg das letzte Wort haben. Bereits 1964 stellte der Europäische Gerichtshof in seiner sogenannten Costa/Enel-Entscheidung den Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor nationalem Recht fest. Heute sprechen sie Recht in vielen Grundsatzfragen, aber es wird auch immer wieder darüber gestritten, wo die Grenzen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht verlaufen.

Kein neuer Widerstand gegen den EuGH

2008 donnerte der Alt-Bundespräsident und ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Stoppt den Europäischen Gerichtshof", schrieb er. Herzog warf dem EuGH vor, dass er "mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen entzieht und massiv in ihre Rechtsordnungen eingreift".

Koen Lenaerts ist der Präsident des EuGHBild: picture-alliance/dpa/T. Roge

Der Widerstand gegen die juristische Landnahme in Luxemburg ist zwar insgesamt nicht neu, doch erst kürzlich akzeptierte das Bundesverfassungsgericht erstmalig ein Urteil des EuGH nicht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 rief ein politisches und rechtliches Erdbeben hervor. Die Richter in Karlsruhe erklärten das Programm der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Staatsanleihen für teilweise verfassungswidrig.

"Wer die Hitze nicht aushält, soll aus der Küche gehen", sagte Koen Lenaerts, Präsident des EuGH, im Interview mit dem NRC Handelsblatt dazu.

Karlsruher Urteil mach EuGH-Präsident "nicht glücklich"

Lenaerts räumt ein, dass ihn das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem Gerichtshof in Luxemburg in rüden Worten eine Überschreitung seiner Zuständigkeit vorwirft, "nicht glücklich macht".

Aber der gegenwärtige Krieg der hohen Richter habe auch damit zu tun, dass der EuGH immer mehr in die Mitte der Bühne rück. "Jetzt, da die EU mehr Macht hat, befassen sich die Richter auch mit politisch sensiblen Themen: Asyl und Migration, europäische Haftbefehle, Entsenderichtlinie für Arbeitnehmer, Gentechnik. Wenn es zu Kontroversen oder Unklarheiten in europäischen Regulierungen gibt, kommen sie zu uns", sagte Lenaerts. Oder dann, wenn es die Befugnisse der Institutionen, wie der Europäischen Zentralbank, betrifft.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 rief ein politisches und rechtliches Erdbeben hervorBild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Der Europarechtsexperte Prof. Franz Mayer erklärte im Interview mit der DW, dass solche Probleme immer da auftauchten, wo es "Mehrebenen-Systeme gibt, wo es um Kompetenzübertragung und Kompetenzverteilung" geht.

Da kommt dann der schöne Juristenbegriff der Kompetenz-Kompetenz ins Spiel: "Wer hat also die Kompetenz darüber, über die Kompetenz zu entscheiden?"

Letztlich lässt sich die Frage nach der ultimativen Kompetenz über die Kompetenz ewig im Kreise drehen. "Es gibt dafür nicht wirklich eine abschließende Antwort", sagte Mayer.

Wer hat das letzte Wort?

Wenn eine Seite nämlich behauptet, ein Streit sei eine Frage des nationalen Verfassungsrechts und man habe die Kompetenz dafür nicht auf die europäische Ebene übertragen, kann es sein, dass der EuGH das Gegenteil erklärt und sagt, dass es sehr wohl um Europarecht gehe.

Wer also hat das letzte Wort? "Grundsätzlich ist es schon so, dass die Mitgliedsstaaten sich gegenseitig versprochen haben, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg der Kompetenzwächter ist", erklärt Prof. Mayer.

Die Richter in Luxemburg reagierten dementsprechend schmallippig auf den Angriff aus Karlsruhe: "Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedsstaaten geschaffene EuGH befugt." Damit sagen die Luxemburger, dass sie die Kompetenz über die Kompetenz haben und nicht die Richter in Karlsruhe.

Der Dialog der Richter und die Atombombe

Wenn aber Zuständigkeitskämpfe und Streit in gewisser Weise zum Geschäft gehören, muss es dafür Formen geben. Daher gibt es Vorlageverfahren bei denen nationale Gerichte unklare oder umstrittene Fragen des Europarechts dem EuGH zur Letztentscheidung vorlegen. Das sei eine Art Diskursangebot, mit dem man dafür sorgt, dass es im Gespräch zwischen den Gerichten nicht zum Äußersten kommt, sagte Franz Mayer. Stattdessen aber habe das Bundesverfassungsgericht hier die Atombombe gezündet. Jetzt drohe der "offene Konflikt der Rechtsordnungen". Und das sei für das Recht eine extrem gefährliche Situation.

Europarechtsexperte Franz Mayer von der Universität Bielefeld Bild: Univ. Bielefeld

EuGH-Präsident Koen Lenaerts hält diese Situation für ein großes Problem. „In einigen Bereichen legt der EU-Vertrag fest, dass die Union zuständig ist. Diese Macht wurde von den Mitgliedsstaaten selbst übertragen. Manchmal gibt es sogar eine exklusive Zuständigkeit wie bei der Geldpolitik in der Eurozone."

Wie schafft man die Kuh vom Eis?

Die Krise zwischen den Juristen in Karlsruhe und denen in Luxemburg sei "komplett menschengemacht", sagt Franz Mayer, anders als die Corona-Krise. Man könne also darauf hinwirken, dass die Richter sich in den Folgeentscheidungen noch einmal aufeinander zu bewegten. Da müsse irgendwo ein pragmatischer Ausweg denkbar sein. 

"Das Ende der Mitgliedschaft"

Darüber hinaus befürwortet Mayer durchaus, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitet - so wie es erwogen wird. "Das ist fast unabweislich, weil sich sonst für alle kleineren Mitgliedstaaten der Eindruck ergäbe, dass der größte Mitgliedstaat mit einem derartigen Machtanspruch - und hier geht es letztlich um richterliche Macht - einfach so davonkäme."

Der Präsident des Gerichtshofs in Luxemburg gibt sich diesem deutschen "Machtanspruch" gegenüber ungerührt: Im Dezember 2018 sei entschieden worden, dass die EZB Regierungsanleihen kaufen dürfe, weil dies Teil der Geldpolitik sei und den Interessen der gesamten Eurozone diene. "Alle Euroländer haben das begrüßt, abgesehen von ein paar der reichen. Sie schauten auf den Verfall ihrer Spareinlagen. Aber das ist ihre nationale Perspektive", so Lenaerts. Das könne in Europa kein entscheidendes Kriterium für die Auslegung der Vereinbarungen sein. "Wenn man das als Land infrage stellt, ist das das Ende deiner Mitgliedschaft."

 

 

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