1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

EuGH: Rüffel für Verfassungsrichter

8. Mai 2020

In einem außergewöhnlichen Schritt hat der Gerichtshof der EU in Luxemburg die Rechtstreue der deutschen Verfassungsrichter angemahnt. Bundestagspräsident Schäuble sieht gar den Euro in Gefahr. Bernd Riegert berichtet.

Luxemburg Schild Europäischer Gerichtshof EuGH
Bild: Imago Images/P. Scheiber

Das höchste Gericht in der Europäischen Union äußert sich normalerweise nie öffentlich zu Urteilen nationaler Gerichte der Mitgliedsstaaten. Doch diesmal ging den Richtern am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Schelte der Kollegen vom Bundesverfassungsgericht wohl doch zu weit.

Schriftlich teilte der EuGH am Freitag mit, nur er und er alleine könne darüber urteilen, ob eine EU-Institution europäisches Recht gebrochen habe oder nicht. "Unterschiedliche Ansichten der Gerichte in den Mitgliedsstaaten über die Rechtmäßigkeit solcher Vorgänge würden die Einheit der europäischen Rechtsordnung gefährden und die Rechtssicherheit untergraben." Dem Bundesverfassungsgericht und allen anderen Gerichten in den Mitgliedsstaaten hielt der EuGH vor, sie seien verantwortlich dafür, europäisches Recht und damit auch die Urteile aus Luxemburg vollständig anzuwenden.

Kompetenzstreit zwischen Karlsruhe und Luxemburg

Diese ungewöhnliche Standpauke des Gerichtshofes in Luxemburg galt einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Dienstag. Die Verfassungsrichter hatten entschieden, dass bestimmte Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank nach deutschem Recht nicht zulässig seien, weil ihre Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend geprüft wurde. Der EuGH hatte diese Praxis zuvor aber gebilligt. In dem Rechtsstreit hatte das Bundesverfassungsgericht die Luxemburger Juristen zuvor ausdrücklich um ihre Beurteilung in einem sogenannten Vorlageverfahren gebeten.

Urteil im wegen Corona spärlich besetzten Saal in Karlsruhe: EuGH handelt "ultra vires"Bild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Das Urteil aus Luxemburg gefiel den roten Roben in Karlsruhe offenbar nicht. Also entschieden sie sich, unter Führung von Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle dem EuGH gleich seine Kompetenz streitig zu machen. Der EuGH handele "ultra vires", jenseits seiner Befugnisse, beschied das Verfassungsgericht. Ein denkbar harter Rüffel in Juristenkreisen, der nun zur ebenfalls harten Reaktion aus Luxemburg führte.

Steilvorlage für Polens Regierung

Verfassungsjuristen sehen die Gefahr, dass andere oberste Gericht und die Regierungen der Mitgliedsstaaten mit den Hinweis auf das außergewöhnliche Urteil aus Karlsruhe ihrerseits die Kompetenz des EuGH anzweifeln könnten, wenn es ihnen politisch in den Kram passte. Der stellvertretende polnische Justizminister hat die Steilvorlage aus Karlsruhe denn auch gleich genutzt. Sebastian Kaleta erklärte nach dem "kolossalen" Karlsruher Urteil, dass Polen in seinem Streit mit der EU Recht habe. "Die EU darf nur das machen, was die Mitgliedsstaaten ihr erlauben", meinte der nationalkonservative Politiker.

Proteste für unabhängige Richter in Polen im Januar: Umstrittene Justizreformen gehen weiterBild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Polen unterliegt wegen umstrittener Justizreformen, die der Gerichtshof der EU mehrfach als rechtswidrig eingestuft hatte, mehrerer Verfahren durch die Europäische Kommission und den Rat der Mitgliedsstaaten. Nach Artikel 7 des Lissabonner Grundlagenvertrages der EU droht Polen theoretisch sogar die Suspendierung seiner EU-Mitgliedschaft, falls das Verfahren bis zum Ende durchgezogen würde.

Verfassungsorgan kritisiert Verfassungsorgan

Der Präsident des Deutschen Bundestages und ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble kritisierte das deutsche Verfassungsgericht in einem Interview. Es sei "schwierig, wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes nicht als verbindlich anerkennen kann", sagte Schäuble dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Das Urteil könne die Gemeinschaftswährung Euro in Gefahr bringen, mahnte Schäuble. "Es kann gut sein, dass in anderen EU-Mitgliedsstaaten nun auch der Bestand des Euro in Frage gestellt wird, weil da jedes nationale Verfassungsgericht für sich urteilen kann." Das sei eine unerfreuliche Situation, sagte Schäuble - der Chef des Verfassungsorgans Bundestag kritisierte damit ein anderes Verfassungsorgan, das unabhängige Gericht in Karlsruhe. Auch das ein seltener Vorgang.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: "Unerfreuliche Situation"Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Tabubruch bereits in Dänemark

Es ist nicht das erste Mal, dass ein nationales Gericht in der EU sich weigert, einen Spruch aus Luxemburg anzuerkennen. Der dänische Oberste Gerichtshof urteilte im Dezember 2016, dass bestimmte Richtlinien des EuGH zur Altersdiskriminierung nach dänischem Recht nicht anzuwenden seien. Die Dänen hatten aber nicht gewagt, dem Europäischen Gerichtshof seine Kompetenz abzusprechen. Deshalb schlug dieser Fall nicht so hohe Wellen wie der aktuelle.

Die politischen Auswirkungen des Streits zwischen den höchsten Richtern in Karlsruhe und Luxemburg schätzt Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik European Policy Centre in Brüssel als gravierend ein. Die Gefahr bestehe, dass Staaten wie Polen oder Ungarn, die wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit unter Druck stehen, das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts als Argumentationshilfe nutzen könnten.

"Krieg der Richter"

Der Bielefelder Verfassungsjurist Franz Mayer sieht in dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts eine "Kriegserklärung" an den EuGH. Es sende die "Botschaft, man muss sich nicht an EuGH-Urteile halten", so Mayer auf der Online-Plattform "Verfassungsblog". Das sei gefährlich, denn die deutschen Richter seien demokratischen und rechtsstaatlichen Kräften, ebenso wie ihren Kollegen in Ländern wie Polen oder Ungarn, "sehenden Auges in den Rücken gefallen". Die europäische Rechtsordnung sei bedroht, eine Art "Faustrecht" des stärksten Gerichts drohe nun.

Verfassungsexperte Franz Mayer geht davon aus, dass die Europäische Kommission jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Mitgliedsland Deutschland auf den Weg bringen muss. Das Verfahren soll das Ziel haben, alle deutschen Gerichte zur Anwendung europäischer Richtersprüche zu zwingen. So ein Vertragsverletzungsverfahren würde - falls bis zum Ende betrieben - wieder in Luxemburg landen: vor dem EuGH.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen