1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mehr Aufwand bei Abschiebungen

21. März 2019

Mängel im Sozialsystem sind kein Hindernis für eine Abschiebung. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden. Doch was bedeutet das Urteil für die Praxis? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, Griechenland
Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos: Kann hierher künftig noch abgeschoben werden?Bild: AFP/Getty Images/A. Pazianou

Was hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Bedingungen für Abschiebungen und Rückführungen von Flüchtlingen in andere EU-Staaten konkretisiert. Geringere Sozialleistungen in einem EU-Mitgliedsland allein sind nach dem Urteil kein Ausschlusskriterium. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Behörden und Gerichte innerhalb der EU das "Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung" in Betracht ziehen müssen.

Was ist unter "unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung" zu verstehen?

Laut EuGH-Urteil dürfen Asylbewerber nur dann an ein anderes EU-Land verwiesen und dahin abgeschoben werden, wenn davon auszugehen ist, dass sie dort ihre "elementarsten Bedürfnisse" befriedigen können. Darunter fallen insbesondere Ernährung und Körperhygiene, eine Unterkunft sowie psychische und physische Gesundheit. Unzulässig ist eine Abschiebung, wenn "eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände". 

Wird das Dublin-III-Abkommen nun geändert? 

Wohl kaum. Das Dublin-III-Abkommen vom 26. Juni 2013 ist umstritten. Besonders eine Regelung darin stößt auf Widerstand: dass für einen Geflüchteten grundsätzlich das Land zuständig ist, über das er erstmals in die EU eingereist ist. Viele Asylbewerber versuchen die Regelung zu umgehen und einen Aufenthaltstitel in wohlhabenderen Ländern wie Deutschland zu erhalten. Sie berufen sich dabei auf die schlechten Lebensumstände in den für sie zuständigen Ländern. 

Der EuGH in Luxemburg: Sein Urteil könnte Asylklagen komplizierter machenBild: picture-alliance/dpa/G. Vanden Wijngaert

Um welche konkreten Fälle ging es?

In einem der Fälle ging es um einen Gambier, der seinen Asylantrag zuerst in Italien und später in Deutschland gestellt hatte. Als er aus Deutschland zurück nach Italien gebracht werden sollte, klagte er dagegen. Außerdem ging es um mehrere staatenlose Palästinenser aus Syrien sowie einen tschetschenischen Russen, denen bereits in Bulgarien beziehungsweise Polen der internationale Schutzstatus zuerkannt worden war. Auch sie stellten weitere Asylanträge in Deutschland und erhoben Klage, als diese abgelehnt wurden. Die deutschen Gerichte müssen nun in Einklang mit dem EuGH-Urteil über diese Fälle entscheiden.

Werden Abschiebungen einfacher?

Nein, sagt Bellinda Bartolucci, rechtspolitische Referentin der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: "Der EuGH hat eine zusätzliche Pflicht für die zuständigen Behörden und Gerichte festgestellt." Sie seien nunmehr verpflichtet, die individuelle Situation von Antragstellern und anerkannten Schutzbedürftigen in dem jeweils anderen Mitgliedstaat zu berücksichtigen. Ob dadurch mehr oder weniger Asylbewerber abgeschoben werden, wird sich zeigen. Die Einzelfallprüfungen könnte die Abschiebeverfahren allerdings verlängern.

Wird nun die Zuständigkeit für Asylbewerber zwischen EU-Staaten häufiger wechseln?

"In Griechenland, Italien, Bulgarien und Ungarn gibt es etliche Anhaltspunkte, dass eine unmenschliche Behandlung drohen könnte", sagt Pro-Asyl-Sprecherin Bartolucci. Die Urteilsschrift nimmt Bezug auf einen Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe über Italien, demzufolge es "konkrete Anhaltspunkte" gebe, dass dort auch anerkannte Flüchtlinge einem erhöhten Risiko ausgesetzt seien, "bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden". Die niedrigen Sozialleistungen würden in Italien durch Familiensolidarität aufgewogen, die Zuwanderern meist nicht offen stünde.

Registrierung per Fingerabdruck: oft der entscheidende Anhaltspunkt dafür, welcher EU-Staat zuständig istBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Wie viele Menschen sind von dem Urteil betroffen?

Deutschland hat im Jahr 2018 laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) insgesamt 64.275 Übernahmeersuche an andere EU-Mitglieder gerichtet. Umgekehrt haben andere Mitgliedstaaten Deutschland um 24.333 Übernahmen von Asylbewerbern ersucht. Ähnlich viele Fälle waren es auch 2017.

Nimmt Deutschland künftig mehr Flüchtlinge auf?

Das wird sich zeigen. Gut möglich, dass nun mehr anerkannte Asylbewerber eine zusätzliche Anerkennung für Deutschland erwirken, weil sie glaubhaft machen können, dass sie in anderen Ländern eine unmenschliche Situation erwartet. Allerdings hat Deutschland schon in der Vergangenheit Asylverfahren relativ selten an andere Staaten übergeben können.

Pro Asyl spricht deshalb von einem "Nullsummenspiel mit gigantischem Bürokratie-Aufwand" und rechnet vor: Im Jahr 2017 wurden 7102 Asylbewerber von Deutschland in andere EU-Länder überstellt. Umgekehrt sind 8754 Verfahren nach Deutschland überstellt worden - die meisten aus Frankreich, den Niederlanden und aus Griechenland. Obwohl Deutschland also mehr als doppelt so viele Übernahmeersuche stellt, wie es erhält, hat es 2017 mehr angenommen als abgegeben.

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen