Europäisches "Leben auf Platte"
13. November 2002Knapp 30.000 Menschen leben in Deutschland ohne Dach über dem Kopf. Aber rund eine halbe Million gehört zur Gruppe der akut Gefährdeten – etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung. Während ihre Zahl lange Jahre kontinuierlich abgenommen hat, steigt sie seit etwa zwei Jahren wieder an, innerhalb eines Jahres um rund 30 Prozent. Mit einem bundesweiten Kongress der Diakonie (Hilfswerk der evangelischen Kirche) in Dresden versuchen die Verbände, auf Lösungsansätze hinzuweisen. Für die 300 Teilnehmer aus der Wissenschaft, aber auch aus vielen Hilfseinrichtungen, stand die Erarbeitung von Lösungsstrategien im Vordergrund.
Kaum jemand landet einfach so auf der Straße. "Arbeitslosigkeit, nicht bewältige Trennungs- und Partnerschaftskrisen, Überschuldung, meistens kommen mehrere Gründe zusammen", erklärt Thomas Poreski von der Evangelischen Obdachlosenhilfe im Gespräch mit DW-WORLD. Nur rund zehn Prozent der Betroffenen sind Frauen. "Männer sind generell unbeweglicher, sie reden selten über ihre Probleme, sondern fallen in eine Art soziale Starre." Frauen suchten häufiger von sich aus Rat, während Männer erst reagierten, wenn ihre Wohnung schon zwangsgeräumt wird.
Ziemlich pfiffig
Soweit muss es aber nicht kommen, denn es gibt intelligente Konzepte. In einem Projekt in Baden-Württemberg werden den Betroffenen z.B. zinsgünstige Kredite eingeräumt, damit sie an eigenen Wohnraum kommen. "Bisher sind das allerdings Einzelfälle, obwohl viele Konzepte übertragbar wären", sagt Thomas Poreski. Die Evangelische Obdachlosenhilfe erarbeitet zur Zeit einen Katalog von Maßnahmen, die sich positiv entwickelt haben.
Ein wachsendes Problem ist, dass Obdachlose in den Innenstädten einfach vertrieben werden. Besonders die privaten Sicherheitsdienste greifen rücksichtslos durch. Und die Stadt München versucht, die Auszahlung von Sozialhilfe an Obdachlose zu verhindern. Das ist zwar verboten, aber man kann nur gerichtlich dagegen vorgehen. "Wir haben immer noch kein Klagerecht als Obdachlosenverband", erläutert Thomas Poreski. Die Folge: Für jeden Betroffenen muss ein eigenes Verfahren angestrengt werden, auch wenn die Rechtslage eindeutig ist. "Und welcher Obdachlose kämpft sich schon durch mehrere Instanzen?"
Deutsche und europäische Ungleichheit
Andere Regionen gehen mit gutem Beispiel voran. "Westfalen-Lippe ist zukunftsweisend, und wir versuchen, woanders auf deren gute Arbeit hinzuweisen", lobt der Diakonie-Experte Poreski. Bei einigen beißt der Obdachlosenverband allerdings auf Granit. "Bayern tut so, als sei überhaupt nichts zu verändern. Und in Mecklenburg-Vorpommern schafft die Politik sogar Anreize, Menschen aus ihren Wohnungen zu vertreiben."
Ähnlich groß sind die Diskrepanzen innerhalb Europas. Frankreich, Deutschland, die Benelux- und die skandinavischen Länder gehen das Problem offensiv an", sagt Poreski. Spanien und Großbritannien sind für den Verband dagegen die schwarzen Schafe in der EU. Die Situation von notleidenden Menschen sei hier katastrophal. Und in den Beitrittsstaaten fehlt zwar eine langjährige Entwicklung von Hilfsangeboten, aber auch in den baltischen Staaten und Polen merkt man langsam, dass Obdachlosigkeit dort ein Problem ist. Reaktion: Für Ende November ist ein erster Kongress der Ostsee-Anrainer in Rendsburg geplant.