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PolitikEuropa

Europa: Das Ende der Neutralität?

29. April 2022

Länder wie die Schweiz, Schweden oder Irland gehören keinem Militärbündnis an. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine stellen sie ihre Neutralität jedoch mehr und mehr in Frage.

Bundeswehr in Rukla in Litauen
Soldat der NATO-Einsatzgruppe "Enhanced Forward Presence" mit G36-GewehrBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

"Wenn sie einen Antrag stellen, werden Finnland und Schweden mit offenen Armen in der NATO empfangen". Mit diesen Worten hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag den Willen des Militärbündnisses bekräftigt, schon bald zwei neue Mitglieder aufzunehmen.

Beide Länder gelten seit langer Zeit als neutral. Doch der Ukraine-Krieg könnte die nordeuropäischen Länder nun in die Arme der NATO treiben. Sie sind nicht die einzigen Staaten in Europa, die angesichts der russischen Bedrohung ihre Neutralität hinterfragen.

Schweiz: Zeitenwende in Bern?

Die Schweiz gilt als Inbegriff des neutralen Staates. 1815 versprachen die Eidgenossen, sich aus Konflikten herauszuhalten und keiner Seite Söldner zur Verfügung zu stellen. Die europäischen Mächte versicherten der Schweiz im Gegenzug, keinen Konflikt auf ihrem Gebiet auszutragen. "Das ist international garantiert und damit die stärkste Neutralität, die es überhaupt gibt", sagt der Historiker Michael Gehler, Professor an der Universität Hildesheim.

Michael Gehler leitet das Institut für Geschichte der Universität HildesheimBild: privat

Auch angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine ist die Regierung in Bern von dieser Linie nicht abgerückt. Für sie kommt etwa die Lieferung von Waffen nicht in Frage. Auch die Weitergabe ihrer Munition für deutsche Panzer an die Ukraine verhindert die Schweiz.

Dennoch habe der Ukraine-Krieg auch in Bern eine Zeitenwende eingeläutet, sagt Gehler der DW: "Die Beteiligung an Sanktionen gegen die Russische Föderation, gegen deren Spitzenrepräsentanten wie Putin und Lawrow und nicht nur gegen Oligarchen - das ist neu. Das hat die Schweiz bisher noch nie gemacht."

Zumindest die Schweizer liberale FDP fordert nun sogar gemeinsame Manöver der Armee mit der NATO. Das findet bislang keine Mehrheit, doch werden derzeit Stimmen lauter, die eine engere Anbindung der Schweiz an die Europäische Union fordern. Dass die Schweiz dabei ihre "dauernde Neutralität" aufgibt, erscheint jedoch unwahrscheinlich.

Österreich: Aufrüstung statt NATO-Beitritt

Österreich erklärte im Jahr 1955 seine "immerwährende Neutralität". Sie war Voraussetzung für den Abzug der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. "Österreich wurde also frei von Okkupation durch Erklärung der Neutralität", sagt Historiker Gehler.

Diese Neutralität wurde in den vergangenen Jahren aufgeweicht, etwa durch gemeinsame Militärübungen mit NATO-Ländern. "Die österreichische Regierungsverantwortlichen zeigen jedoch bis jetzt keine Bereitschaft, von der Neutralität abzurücken und der NATO beizutreten", erklärt er. Dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit im österreichischen Parlament: "Und die existiert bis heute nicht, auch weil die österreichische Bevölkerung mehrheitlich für die Beibehaltung dieses Status ist."

Servas Neutralität? Demonstration in Wien am 20. März 2022Bild: Georges Schneider/photonews.at/IMAGO

Gehler, der selbst Österreicher ist, betont die Vorteile, die der neutrale Status des Landes in der aktuellen Situation haben könne. Er erinnert daran, dass der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer als erster europäischer Staats- und Regierungschef nach Kriegsbeginn den Kreml besuchte. "Das zeigt doch, dass der Neutrale offensichtlich rascher direkten persönlichen Kontakt bekommen kann zu diesem kriegführenden russischen Staatspräsidenten."

Doch der russische Angriff auf die Ukraine hat auch in Wien die Zahl derer wachsen lassen, die sich um die Sicherheit sorgen. Das Militär mit seinen etwa 14.000 Berufssoldaten gilt Kritikern als schwach und kaputtgespart. Nun gebe es einen ähnlichen Trend wie in Deutschland, sagt Gehler: "Das österreichische Bundesheer soll jetzt aufgestockt werden, die Strukturen und Kapazitäten verbessert werden. Man nimmt in Aussicht, den Militärhaushalt auf 1,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes anzuheben und in weiterer Zukunft sogar auf 1,5 Prozent."

Irland: Moralischer Beistand für Kiew

Irland ist seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1921 formell neutral und verfolgte diese Politik auch während des Zweiten Weltkriegs. Zwar wird auch in Irland die Neutralität des Landes nun intensiver diskutiert. In einer Umfrage im Auftrag der Times sprachen sich in dieser Woche jedoch mehr als 70 Prozent der Befragten gegen eine NATO-Mitgliedschaft Irlands aus.

Der irische Premier Micheál Martin hat seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wiederholt deutlich gemacht, dass sein Land zwar militärisch neutral sei, moralisch und politisch jedoch auf der Seite Kiews stehe.

Ein Wandbild im irischen Granard zeigt den ukrainischen Präsidenten SelenskyjBild: Niall Carson/PA Wire/dpa/picture alliance

Genau wie Österreich ist auch Irland nicht Mitglied der NATO, jedoch Teil der Europäischen Union. Auch die EU-Mitgliedsländer haben sich gegenseitg im Fall eines "bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet" zugesagt, "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" zu leisten.

"Diese Beistandsregelung im EU-Vertrag von Lissabon ist jedoch freiwillig, was den militärischen Beistand angeht", sagt Gehler: "Das heißt nicht, dass sich die Neutralen wie Irland oder Österreich völlig entziehen. Sie können diesen Beistand im humanitären oder zivilen Bereich leisten."

Schweden: Panzerfäuste und Beitrittsabsichten

Schweden hat seine Neutralität nie in der Verfassung verankert. "Schweden hat aber seit Beginn des 19. Jahrhunderts weder einen Krieg geführt noch an einem solchen teilgenommen. Und daraus hat sich eine traditionelle Neutralität entwickelt", erläutert Gehler.

Doch von dieser ist das Land zuletzt immer weiter abgerückt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit seinem Beitritt zur EU bezeichnet es sich nun als "bündnisfreies Land". 

AT4: Schweden soll 5000 dieser Panzerabwehrwaffen an die Ukraine geliefert habenBild: U.S. Marines/ZUMA Wire/picture alliance

Ein bündnisfreies Land, das sich durch gemeinsame Manöver und Militäreinsätze der NATO immer weiter angenähert hat. "Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Finnland und Schweden zusammen", sagte NATO-Generalsekretär Stoltenberg an diesem Donnerstag, als er erneut die Bereitschaft der Allianz für eine Aufnahme Schwedens und Finnlands betonte.

Zum Krieg in der Ukraine hat sich Stockholm bereits zuvor klar positioniert. Die schwedische Regierung liefert Waffen nach Kiew, darunter Panzerfäuste vom Typ AT4.

Mit Spannung wird nun erwartet, ob Schweden gemeinsam mit Finnland bekannt gibt, den Antrag auf NATO-Mitgliedschaft zu stellen. Das könnte schon Mitte Mai passieren, etwa beim Besuch des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö in Stockholm. Einen offiziellen Zeitplan haben derzeit jedoch weder die finnische noch die schwedische Regierung vorgelegt.

Finnland: 1300 Kilometer russische Grenze

Finnland werde "definitiv" der NATO beitreten, sagte Finnlands Ex-Premier Alexander Stubb der DW bereits Ende März. "Das ist keine Frage des Ob, sondern des Wann." Er rechne "in wenigen Monaten" mit einem finnischen Antrag.

Wie auch in Schweden erreicht die Unterstützung für einen NATO-Beitritt laut Umfragen neue Höchstwerte - eine direkte Folge der kriegerischen Aggression des großen Nachbarn Russland, mit dem Finnland eine 1300 Kilometer lange Grenze verbindet.

Gemeinsam in die NATO? Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson (links) mit ihrer finnischen Amtskollegin Sanna MarinBild: Paul Wennerholm/TT News Agency/REUTERS

Vom russischen Reich hatte sich Finnland 1917 unabhängig erklärt. "Diese staatliche Unabhängigkeit haben die Finnen später mit einem immer wohlwollenden Verhältnis gegenüber Moskau wahren können", sagt Historiker Gehler: "Auch die Sowjetunion hat die finnische territoriale Integrität im Zeichen des Kalten Krieges nicht in Frage gestellt."

"Russland ist nicht der Nachbar, für den wir ihn gehalten haben", sagt nun Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin, die für den NATO-Beitritt wirbt. Finnland hat sich im Konflikt klar auf die ukrainische Seite gestellt und unterstützt Kiew mit Waffenlieferungen.

Zypern und Malta: Moskaus Einfluss schwindet

Zypern schaut auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Der Nordteil der Mittelmeerinsel steht seit 1974 unter Kontrolle der Türkischen Republik Nordzypern, die aber nur vom NATO-Land Türkei anerkannt wird. Seit 2004 ist Zypern Mitglied der EU - beigetreten als gesamte, jedoch geteilte Insel. Dieser komplizierte Status verhindert einen Beitritt des Landes zur NATO.

Varosha: Bewegung im Zypernkonflikt?

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Hinsichtlich des Krieges in der Ukraine tat Zypern sich im Vergleich zu anderen EU-Staaten zunächst schwerer, die russische Aggression zu verurteilen. Grund dafür: Auf Zypern leben viele Tausend Russen, viele Oligarchen haben Milliarden von Euro auf der Insel investiert. Doch nun geht Nikosia hart gegen Russen vor, die auf den Sanktionslisten der EU stehen. Sie entzieht auch einigen russischen Oligarchen, die sich bis 2020 einen so genannten"goldenen Pass" Zyperns - und damit die EU-Bürgerschaft - kaufen konnten, die Staatsangehörigkeit.

Zypern hat die Ukraine seit dem russischen Angriff mit humanitären Hilfslieferungen versorgt, nicht jedoch mit militärischem Gerät. Gleiches gilt für das ebenfalls neutrale EU-Mitglied Malta. Auch die 500.000-Einwohner-Insel debattiert nun verstärkt über eine Abkehr von der Neutralität und hat den Verkauf "goldener Pässe" an Russen eingestellt.

Republik Moldau

1994, drei Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, schrieb die Republik Moldau sich den neutralen Status in die Verfassung. Das Land hoffte, so auch die russischen Truppen loszuwerden. Doch die sind nach wie vor im abtrünnigen Landesteil Transnistrien stationiert, der unter Kontrolle pro-russischer Separatisten steht.

Nach Explosionen in Transnistrien herrscht nun die Angst, Putin suche einen Vorwand für einen Angriff auf die Republik Moldau. Das kleine Land grenzt im Osten an die Ukraine und hat viele Kriegsflüchtlinge aufgenommen.

Im Westen grenzt Moldau an das NATO-Mitglied Rumänien. Die Regierung von Präsidentin Maia Sandu orientiert sich nach Westen. Am 3. März 2022 reichte die Republik Moldau ein EU-Beitrittsgesuch ein. Ein Beitritt zur NATO scheint jedoch angesichts der russischen Truppen in der abtrünnigen Region Transnistrien ausgeschlossen.

Bosnien und Herzegowina: Angst vor russischer Einmischung

Angesichts der russischen Aggression hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Anfang April den Ländern Unterstützung zugesagt, die sich durch Russland bedroht sehen. Stoltenberg nannte dabei ausdrücklich Bosnien-Herzegowina. Denn auch 30 Jahre nach dem Angriff auf Bosnien ist die Lage im Land nicht stabil und es herrscht Angst vor einer russischen Einmischung.

Bosnien und Herzegowina ist Partnerland der NATO und strebt langfristig eine Mitgliedschaft an. Der Landesteil Republika Srpska, an Serbien und Russland orientiert, lehnt dies jedoch ab. Milorad Dodik von der bosnisch-serbischen Partei SNSD sagte nach Beginn des Ukraine-Krieges: "Es lebe Serbien, es lebe Russland, es lebe die Republika Srpska."

Viele Bosnier hoffen nun auf einen baldigen EU-Beitritt ihres Landes.

Serbien: Drahtseilakt zwischen Moskau und Brüssel

Serbien gilt offiziell zwar als neutral, hält aber  gemeinsam mit Russland Manöver ab. So nahmen im Juni 2021 etwa 100 serbische Soldaten am Manöver "Slawische Bruderschaft" nahe der russischen Schwarzmeerküste teil, bei dem eine Luftlande-Operation geprobt wurde. Auch mit der NATO steht das Land im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" in Verbindung und hat bereits gemeinsam Manöver abgehalten.

Präsident Vučić freut sich über Kornet-Panzerabwehrlenkwaffen aus RusslandBild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

"Für Präsident Aleksandar Vučić kommt offensichtlich ein NATO-Beitritt nicht in Frage," sagt Historiker Michael Gehler. Im Land seien die Erinnerungen an die NATO-Bombardierung von 1999 und die nachfolgende Unabhängigkeit Kosovos weiter präsent.

"Auf der anderen Seite strebt man die Aufnahme in die Europäische Union an. Es ist also ein Drahtseilakt, den Vučić zu vollziehen versucht. Aber an der prorussischen Haltung, denke ich, wird er auf absehbare Zeit wenig ändern."

Auf lange Sicht wird sich Belgrad aber wohl entscheiden müssen, ob es sich in Richtung Brüssel oder in Richtung Moskau orientiert.

 

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