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Gesellschaft

Europa fängt in Plovdiv an

Christopher Nehring
16. März 2019

Im Jahr 2019 ist Plovdiv, das alte Phillipopel oder Phillipolis wie es Griechen und Römer nannten, eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte. Christopher Nehring kennt die Stadt schon lange.

Christopher Nehring, Historiker, Berlin (©Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)
Bild: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de

Als ich zum ersten Mal auf einen der (heute nur noch) sechs Hügel in Plovdiv stieg, war Bulgarien noch ganz weit weg. Das Land war nicht in der EU, weder auf dem Papier, noch in den Köpfen. Und damit schon gar nicht auf meinem Schirm. Es war meine erste Reise seit Kindheitstagen ins Nicht-EU-Ausland. Wie klein man sich seine Welt doch manchmal macht. Wenn ich heute an Plovdiv denke, denke ich nicht nur an Bulgarien, sondern an Europa. Mein ganz persönlicher Blick auf die zentralbulgarische Stadt in der Maritza-Ebene zwischen Balkan- und Rhodopengebirge, unterstreicht im europäischen Schicksalsjahr 2019, was Europa und die EU ausmacht: Nicht die Lösung aller Probleme oder die Abwesenheit davon, kein Allheilmittel und kein "sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage". Sondern: Eine Horizonterweiterung, ein teils gemeinsam, teils getrennt gestalteter Raum, in dem nicht alles immer besser, aber vieles näher zusammen ist.

Stadt der sieben Hügel

Im Jahr 2019 ist die EU in Plovdiv wieder so präsent wie seit den euphorischen Tagen vor dem EU-Beitritt 2007 nicht mehr. Als eine der beiden Kulturhauptstädte (zusammen mit dem italienischen Matera) ist Europa ein ganzes Jahr zu Gast in Plovdiv. Zum ersten Mal überhaupt ging diese Ehre nach Bulgarien, und dass sich dabei dann Plovdiv auch noch gegen die Hauptstadt Sofia durchsetzte, grenzte an ein kleines Wunder. Die Stadt der historischen sieben Hügel, in der Thraker, Griechen, Römer und Osmanen ihre Spuren hinterließen, trumpfte mit seiner Geschichte und seiner kulturellen Bedeutung auf - und sicher auch etwas mit seinem historischen Amphitheater mitten in der Altstadt. Das ganze Jahr also gibt es die EU zum Anfassen für Plovdiv - und Plovdiv zum Anfassen für das restliche Europa.

Plovdiv - Altstadt am AbendBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Die Hoffnung Europa ist zurück in Plovdiv, "zusammen" ist das Motto für die Kulturhauptstadt 2019. Bestimmt war ich nicht der einzige, der Schwierigkeiten hatte sich daran zu erinnern, wann diese beiden Ideen in den vergangenen Jahren so enthusiastisch gefeiert wurden. Eigentlich, so lehrt ein Blick in jede europäische Tageszeitung zwischen Porto und Bukarest, Dublin und Palermo, hält diesen Kontinent manchmal nicht mehr viel zusammen. Und die Hoffnung auf mehr "zusammen" war - gelinde gesagt - auch schon einmal größer als im Jahr des (vermutlichen) Brexit.

Bulgarien macht im allgemeinen EU-Krisentenor keine Ausnahme. Einerseits zog es Hunderttausende Bulgaren seit dem EU-Beitritt nach West-, Nord- und Zentraleuropa. Als Arbeitsmigranten und Studenten, und - so ist in jeder zweiten Zeitungsheadline zu Bulgarien nachzulesen - als Sozialmigranten. Während ein Teil der Bulgaren in dieser oder jener Form von der europäischen Freizügigkeit und Solidarität profitiert, reiht sich das Land in die Gruppe von EU-Mitgliedsstaaten ein, die Migration - dann verstanden als Migration von außerhalb der EU - besonders skeptisch gegenübersteht.

Die Euphorie des Beitritts

Mittlerweile fast 13 Jahre ist es her, dass Plovdiv die EU bzw. den bulgarischen Beitritt zur Europäischen Union feierten. Damals war man sich sicher: ab jetzt wird alles immer besser, Arbeitsplätze werden kommen, die Gehälter steigen und die Korruption sinken, der Lebensstandard steigen, die Kriminalität geringer werden. Und freier Reisen würde man können, als stolzer Bürger der EU, ohne lästige Visa und Beschränkungen. Nicht mehr "Balkanese", wie Bismarck es gesagt hätte, sondern Europäer erster Klasse würde man werden. Irgendwie, einfach so, die EU würde sich schon darum kümmern.

Ein Großteil dieser Hoffnungen wurde, das konnte man Jahr für Jahr spüren, erwartungsgemäß enttäuscht. Alsbald zeigte sich, wie wenig die EU außer warmen oder warnenden Worten wirklich zum Alltag der Menschen beisteuern konnte. Korruption, Gehälter, Infrastruktur und Lebensqualität, um all das musste man sich weiterhin selbst kümmern. Der Enthusiasmus verflog, Resignation macht sich breit, in Plovdiv und in Europa. 

"Zusammen" als Motto der Europäischen Kulturhauptstadt Plovdiv, so Bürgermeister Ivan Totev, soll vor allem die Gemeinsamkeit der Religionen (Orthodoxie, Katholizismus, Judentum und Islam) und Ethnien (Bulgaren, Türken, Roma und Armenier) in der Stadt Plovdiv und ihrer jahrtausendealten Geschichte einfangen. Metaphorisch passt es aber auch als Motto für das in die Krise geratene gesamteuropäische Gefühl. Trennendes, von Herkunft, Nationalität, Religion über Geschlecht und sexuelle Orientierung bis hin zu sozialem Status und Ernährungspräferenzen, scheint auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar der ganzen Welt, in den letzten Jahren wieder mehr Bedeutung erlangt zu haben als eben das gemeinsame "Zusammen".

Bislang waren die bulgarischen Beiträge zur Überbrückung dieser Differenzen und der Lösung der großen europäischen Zukunftsfragen überschaubar - sowohl im Land selbst als auch auf europäischem Niveau. Umso trefflicher kann das Motto werden, wenn von der Kulturhauptstadt Plovdiv just im Jahr des Brexit neue Impulse für ein europäisches "Zusammen" ausgehen. Wenn schon nicht auf der großen weltpolitischen Bühne, dann zumindest im Kleinen.

Über Plovdiv Bulgarien neu kennenlernen

Das hat Plovdiv schon einmal geschafft, wenn auch nur für mich persönlich. Plovdiv hat meine ganz persönliche Welt erweitert - und wird für immer meine erste aktive Begegnung mit Bulgarien und der EU sein. Vielen Touristen, die 2019 in die Kulturhauptstadt Plovdiv kommen, wird es ähnlich ergehen. Das muss nicht schlecht sein - ganz im Gegenteil. Es ist eine hervorragende Basis, um die EU in Bulgarien neu kennen und schätzen zu lernen.

Plovdiv - bunt, schräg, europäischBild: D. Schwiesau

Am besten schafft man das bei einem bulgarischen Festmahl. Das geht so: Erstmal einen hausgebrannten Traubenschnaps (rakia, 50gr. in der kleinen, 100gr. in der großen Variante, weniger ist verboten, mehr unbedingt erwünscht), dazu das Nationalgericht: Tomaten, Gurken und Weißkäse (Schopska-Salat). Der ist übrigens wohl auch Nationalgericht, weil er die Farben der bulgarischen Flagge (Weiß-Grün-Rot) spiegelt. Als ich diesen Gedanken zum ersten Mal laut aussprach, erntete ich verdutzte Mienen. Offenbar war das vorher niemandem so recht aufgefallen.

Essen und Politik

Dazu kommt geschnittener Käse in Gelb (kashkaval) oder Weiß (sirene) und verschiedene Vorspeisen (meze), vor allem luftgetrocknete Salami-Varianten (sudzhuk – Salami) oder bündnerfleischähnliche, luftgetrocknete Rinder- oder Schweinefilets (pastyrma). Wer denkt, dass hier eigentlich schon Schluss sein könnte, hat recht. Aber das war's trotzdem noch lange nicht, jetzt kommt der Hauptgang. Es folgen wahlweise Gegrilltes (skara), Aufläufe (muzaka) oder Eintöpfe (gjuvetsch). Meistens gegrillte Frikadellen (kjofte), Fleischröllchen (kebabtscheta) oder Schweine-Nackensteaks (pyrzhola).

Diese Essen sind überaus wichtig. Hier wird die Basis gelegt, sowohl für das körperliche Wohlbefinden, als auch für politische Diskussionen (die nach gutem Brauch aus der kommunistischen Zeit immer noch bevorzugt in der Küche stattfinden). Und eigentlich ist es fast unmöglich, mehr als eine Woche in Bulgarien zu verbringen ohne von irgendjemandem zu solch einem Essen eingeladen zu werden.

Und welcher Anlass könnte besser sein als im Jahr der Kulturhauptstadt Plovdiv 2019 "zusammen" an einem bulgarischen Tisch über das zu diskutieren, was uns in Europa verbindet - oder trennt. Und mit einem guten bulgarischen Wein oder Schnaps und einer gesunden Prise Humor und Ironie auf den Brexit, EU-Krise, Migration, Sozialtourismus und die in Bulgarien immer noch fanatisch gefeierte WM-Viertelfinal-Niederlage Deutschlands gegen Bulgarien 1994 anzustoßen. 

Christopher Nehring, geb. 1984, ist Leiter Forschung im Deutschen Spionagemuseum in Berlin. Er hat Osteuropäische und Neuere Geschichte in Heidelberg und St. Petersburg studiert und 2016 zu einem Thema der Geheimdienstgeschichte promoviert.