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Politik

Europa: Rüsten für den Wirtschaftskrieg?

2. November 2020

Jüngst haben die USA die Sanktionen gegen "Nord Stream 2" verschärft. Aber auch andere setzen auf Wirtschaft als Waffe. Der aufziehende Großmachtkonflikt zwischen den USA und China treibt die Suche nach Gegenmitteln.

Symbolbild EU-USA
Bild: picture-alliance/Ulrich Baumgarten

Nein, in die USA würde Franz Kracht derzeit nicht reisen. Das liegt nicht an der Corona-Pandemie, sondern an den Sanktionsdrohungen der USA gegen den Bau der Gas-Pipeline "Nord Stream 2". Der Bürgermeister von Sassnitz, eine Stadt im nordöstlichsten Zipfel Deutschlands, sagt der DW, das Außenministerium in Berlin habe ihm von Reisen in die USA abgeraten. Dabei hat das kleine Ostsee-Städtchen dort eine Partnerstadt.

Bürgermeister Franz Kracht reist nicht in die USA, wegen der US-SanktionenBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Am 20. Oktober hatte Washington die Sanktionsschraube noch einmal angezogen. Laut einer vom US-Außenministerium veröffentlichten Auslegungsrichtlinie muss mit Strafen rechnen, wer durch Bereitstellung von Material oder Räumlichkeiten dazu beiträgt, die zur Verlegung der Pipeline benötigten Schiffe für die Verlegearbeit auszurüsten oder wer dies finanziert. Drohend heißt es: "Das Außenministerium und das Finanzministerium sind bereit, das ganze Spektrum an Sanktionen zu nutzen, um den Bau dieser Pipeline zu stoppen."

Showdown in Sassnitz

04:58

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"Verschärfung des Erpressungsgedankens"

Bürgermeister Kracht ist empört. "Der neue Leitfaden des US-Außenministeriums verschärft aus meiner Sicht den Erpressungsgedanken nochmals". Besorgt ergänzt der 53-Jährige: "Wir sehen uns dort benannt und betroffen. Und haben ernste Befürchtungen, dass Sanktionen ausgesprochen werden könnten."

Gerade einmal 10.000 Einwohner hat das beschauliche Sassnitz. Und doch ist der Ostseehafen auf der Insel Rügen zum Spielball weltpolitischer Interessen geworden. Weil Sassnitz und der zur Stadt gehörende Port Mukran ein logistischer Knotenpunkt für die Fertigstellung der Gas-Pipeline "Nord Stream 2" ist. Hier lagern die mit Beton ummantelten Stahlrohre für die noch fehlenden rund 150 Kilometer, die auf dem Grund der Ostsee verlegt werden müssen, damit noch mehr russisches Gas zu den Verbrauchern in Deutschland und Europa strömen kann. Hier liegen Wohnschiffe für russische Arbeiter. Vor allem ankert hier auch das russische Verlegeschiff "Akademik Cherskiy"; hier wurde es für seinen Auftrag in der Ostsee ausgerüstet. Dieses Schiff ist die letzte Hoffnung für die Gasleitung. Wegen US-Sanktionsdrohungen hatte die Schweizer Reederei Allseas letzten Dezember ihre Spezialschiffe praktisch über Nacht abgezogen. Seither ruhen die Arbeiten.

Am 30. 10. lag das Verlegeschiff Akademik Cherskiy noch im Hafen Mukran - Screenshot von VesselfinderBild: Vesselfinder.com

Verhindern der Pipeline mit allen Mitteln

Erstmals im August erlangte Sassnitz traurige Berühmtheit. Wegen eines Briefes aus dem fernen Washington. In dem drohen die drei US-Senatoren Ted Cruz, Tom Cotten und Ron Johnson dem Ostsee-Städtchen mit wirtschaftlicher Vernichtung, sollte die Stadt weiter an dem Pipeline-Projekt mitwirken. Der Brief markiert eine neue Eskalationsstufe in dem Streit um "Nord Stream 2". Deutschland mache sich abhängig von russischem Gas, argumentieren die US-Amerikaner schon lange. Das Pipeline-Projekt gefährde die nationale Sicherheit der USA. Paradoxerweise heißt das im Dezember 2019 beschlossene Sanktionsgesetz "Gesetz zum Schutz der Europäischen Energiesicherheit(Protecting Europe´s Energy Security Act, PEESA). Klar ist: Die USA wollen die Pipeline mit allen Mitteln verhindern.

Außenminister Heiko Maas pocht auf europäische SouveränitätBild: Michael Sohn/AP Photo/picture-alliance

Die Regierung in Berlin steht weiter zu "Nord Stream 2". Ungewöhnlich deutlich erklärte Außenminister Heiko Maas Mitte Oktober gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Über unsere Energiepolitik und Energieversorgung entscheiden wir hier in Europa. Wir kritisieren ja auch nicht, dass die Vereinigten Staaten im letzten Jahr ihre Ölimporte aus Russland mehr als verdoppelt haben und jetzt der weltweit zweitgrößte Importeur russischen Schweröls sind. Die USA nehmen ihr Recht auf eine eigenständige Energiepolitik wahr. Wir tun das auch."

Wirtschaftsministerium: US-Sanktionen völkerrechtswidrig

Das Wirtschaftsministerium bezeichnete die extraterritorialen US-Sanktionen gegenüber der DW als "völkerrechtswidrig". Auch aus der Opposition gibt es Unterstützung. Die Linken Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen sieht in dem Streit um "Nord Stream 2" einen Wirtschaftskrieg um Absatzmärkte. "Die US-Administration verfolgt mit ihren Sanktionen gegen 'Nord Stream 2' eine aggressive Lobbyarbeit für die amerikanische Fracking-Industrie und führt sich dabei auf wie die Mafia", schrieb Sevim auf eine DW-Anfrage.

Der Grünen- Außenpolitiker Jürgen Trittin fordert sogar strafrechtliche Ermittlungen gegen Senator Ted Cruz. In einer NDR-Dokumentation erklärt Trittin: "Ted Cruz, der best bespendete Senator der Ölindustrie, droht in dem Brief einem Hafen in Deutschland mit Vernichtung. Das ist eine Drohung mit einem empfindlichen Übel, das heißt strafrechtlich Nötigung". Trittin kann sich ein Einreiseverbot gegen Cruz in die EU vorstellen, auch die Beschlagnahme etwaiger Konten.

Wirft Ted Cruz Nötigung vor: Jürgen Trittin Bild: Getty Images/A. Berry

Europa schärft die Instrumente

Trittins Forderung trifft einen Nerv. Das zeigen Ende Oktober von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations, ECFR, veröffentlichte Vorschläge zur "Verteidigung von Europas Wirtschaftlicher Souveränität". Eins der elf vorgeschlagenen Instrumente: Persönliche Sanktionen wie Reisebeschränkungen und das Einfrieren von Vermögen.

Hauptautor des ECFR-Papiers ist Jonathan Hackenbroich. Im DW-Interview erklärt der Außenhandelsexperte, vor allem die zentrale Rolle des US-Dollars in der Weltwirtschaft mache amerikanische Sanktionen so wirksam. Deshalb steht für Hackenbroich an erster Stelle die Stärkung des Euro. Der müsse technologisch auf den neuesten Stand gebracht werden, mit einer Digital-Währung. An der Stelle hinke Europa China hinterher.

Zankapfel Gas-Pipeline. Nur ein Beispiel von vielen, wo Wirtschaft als Waffe dientBild: Odd Andersen/AFP

Export-Bank: "Too big to sanction"

An zweiter Stelle schwebt Hackenbroich die Gründung einer europäischen Exportbank vor. Die soll Zahlungskanäle mit Drittländern offenhalten, die unter Sanktionen großer Mächte stehen. Diese Bank sollte durch einen Staatsvertrag von Staats- und Regierungschef gegründet und mit Spitzenbeamten besetzt werden. Hackenbroich erläutert den Gedanken dahinter: "Kann man es politisch so hoch ansiedeln und zu so einem wichtigen Thema für Europa machen, dass es politisch immer schwerer wird für die Amerikaner zu sanktionieren?"

Ein weiterer Baustein wäre die Schaffung einer EU-Behörde, die sich gezielt mit wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen beschäftigen soll, geleitet von einem ebenfalls neu zu installierenden EU-Sonderbeauftragten für wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen.

Zwischen den Fronten

Vor allem aber fordert der ECFR-Außenhandelsexperte, dass Europa sich den neuen Realitäten stellt: Dass geopolitische und machtpolitische Rivalitäten vermehrt mit wirtschaftlichen Mitteln ausgetragen werden. Es seien nicht nur die USA, die ihren Markt und ihre Währung als Waffe einsetzten, erläutert Hackenbroich: "Auf der Höhe der ersten Corona-Welle, hat China im April den Niederlanden zumindest indirekt gedroht, sie vom Zugang zu Medizingütern abzuschneiden, weil Den Haag eine Namensänderung ihrer Repräsentanz in Taiwan erwägt hat."

So sehr US-Sanktionen auch legitimen Handel mit dem Iran beschädigt haben oder die Wirtschaftskontakte zu Russland torpedieren: Die größte Sorge bereitet Politik und Wirtschaft die Aussicht, im eskalierenden Machtkampf zwischen den USA und China zwischen die Fronten zu geraten.

Rivalität USA - China: Gerät Europa zwischen die Fronten?Bild: UNTV/AP/picture alliance

Input für Debatte

Die ECFR-Vorschläge wurden auch auf Anregung des Berliner Außenministeriums entwickelt. Außenamts-Sprecher Christofer Burger erklärte Ende Oktober vor der Bundespressekonferenz, Deutschland und Frankreich hätten gemeinsam mit anderen europäischen Partnern "die Gründung einer Task Force vorangetrieben, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die Resilienz Europas gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen von außen gestärkt werden kann".

Dieser Task-Force unter dem Dach der ECFR gehörten deutsche und französische Spitzenbeamte an, Parlamentarier und Experten aus Wirtschaftsverbänden. Dem Außenministeriums-Sprecher war es wichtig, die ECFR-Vorschläge "zu verstehen als Input für die anstehenden Debatten auf deutscher und europäischer Ebene".

Für "Nord Stream 2" wird der Aufbau der europäischen Verteidigungsinstrumente wohl keine Rolle mehr spielen. In Sassnitz jedenfalls spürt Franz Kracht bereits jetzt die Wucht der US-Drohungen: "Bei Geschäftsanbahnungen, wo es um zukünftige Projekte geht, spielen diese Sanktionsdrohungen schon eine Rolle", beschreibt der Bürgermeister die Verunsicherung.