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Politik

Europa ist weiter bedroht

Barbara Wesel
4. November 2020

Der blutige Anschlag in Wien zeigt, dass nicht nur Frankreich von dschihadistischem Terror bedroht ist, sondern auch andere europäische Länder. Wie konkret ist die Gefahr? Was können Sicherheitsbehörden und Politik tun?

Österreich Wien nach dem Terroranschlag | Bundeskanzler Sebastian Kur
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz bei der Kranzniederlegung nach dem Terroranschlag in WienBild: Georges Schneider /photonews.at/imago images

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz spricht nach dem blutigen Terroranschlag in Wien von einem Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei, der aus "Hass gegen unsere Lebensart und unsere Demokratie" entstehe. Es ist in solchen Situationen Aufgabe der Politik, das Geschehene zu erklären und für die Bürger begreifbar zu machen. Je mehr die Hintergründe der Tat aufgeklärt werden, desto mehr hilft das den Sicherheitsbehörden, die anhaltende diffuse Bedrohung durch dschihadistisch motivierten Terror in Europa zu verstehen.

Etappensieg im Kampf gegen den Terror

Während in der vorigen Woche die Öffentlichkeit noch schockiert war vom Attentat von Nizza, berichtete Europol von einem Etappensieg im Kampf gegen den Terror: Die spanische Polizei konnte im Norden des Landes eine Zelle ausheben, die dschihadistische Terrorakte im Namen des sogenannten Islamischen Staates (IS) vorbereitete.

"Diese Zelle war online sehr aktiv und verbreitet eine Menge dschihadistische Propaganda, um junge Leute zu rekrutieren und zu indoktrinieren. (...) Dabei wurden gerade Jugendliche als Rollenbilder im dschihadistischen Kampf vorgeführt." Manche der zahlreichen Profile und Netzwerke in den sozialen Medien hätten über 10.000 Follower gehabt.

Bei realen Treffen wurden die jungen Mitglieder dann physisch und mental für Terrorakte trainiert, in Sportgruppen und durch Handbücher für den Umgang mit Messern und Schusswaffen. Die Polizei in Spanien brauchte zwei Jahre, um das Netzwerk auszuheben.

Europol: Europa steht im Kampf gegen den Terror vor neuen HerausforderungenBild: Imago Images/AFLO/Y. Nakao

Die Beschreibung dieses Einzelerfolges der Polizei zeigt, womit europäische Länder weiter kämpfen: "Europa steht gegenwärtig einer teuflischen neuen Form des internationalen Terrorismus gegenüber. Der klare Strategiewechsel beim Islamischen Staat hin zu Attentaten im Kommando-Stil, die sich besonders auf Europa konzentrieren, verbunden mit der wachsenden Zahl ausländischer Kämpfer, zeigt die neuen Herausforderungen in der EU", schreibt Europol in seiner jährlichen Bewertung der Terrorlage in Europa.

Die gute Nachricht war, dass 2019 die Zahl der Anschläge leicht gesunken war: 21 durchgeführten Attentaten standen 119 Anschlagspläne gegenüber, die von den Behörden verhindert werden konnten. "Damit übersteigt die Zahl der verhinderten Anschläge die der ausgeführten Attacken deutlich", schreibt Europol. Einzeltäter waren am "erfolgreichsten" bei der Umsetzung ihrer Pläne. Bei den verhinderten Taten war meist ein Netzwerk involviert. Die Behörden können offenbar Gruppen von Dschihadisten oft rechtzeitig identifizieren. Gegenüber den sogenannten "einsamen Wölfen" sind sie eher hilflos.

Der Dschihadismus in Europa lebt und gedeiht

Die Terrorbedrohung in Europa sei gesunken, aber sie besteht weiter, bekräftigt auch Thomas Renard vom Egmont-Institut in Brüssel. Die Gruppe der Täter sei allerdings diffuser geworden, weil es sich überwiegend um Einzeltäter handelt, die allein agieren, selbst wenn sie Kontakte zu Dschihadismus-Propaganda und -Netzwerken hätten. "Sie sind das Erbe des sogenannten Kalifats (in Syrien und Irak) und dafür verantwortlich, dass auch auf einem niedrigeren Bedrohungsniveau regelmäßig weiter Anschläge verübt werden", sagt der Forscher.

Dschihadisten agieren überwiegend alleine, so Thomas Renard vom Egmont-Institut in BrüsselBild: Egmont Institute for International Relations

Auch nach dem Fall der IS-Herrschaft sei der Kern der Propaganda weitgehend gleich geblieben: Sie stachele "gute Muslime" gegen den "verdorbenen, unmoralischen Westen" auf, lobe den globalen Kampf des Islam gegen die Ungläubigen und fordere Rache für die Taten des Westens gegen Muslime. Damit ließen sich nach wie vor Terroranschläge inspirieren, erklärt Renard.

Insgesamt, so schätzt er, gebe es in Europa rund 50.000 mit dem Dschihadismus verbundene Personen, die den Sicherheitsbehörden bekannt sind. Viele seien zurückgekehrte IS-Kämpfer und frustrierte Reisende, die sich dem sogenannten Islamischen Staat anschließen wollten und an der türkisch-syrischen Grenze aufgehalten wurden.

Täterprofil und Motivation aber seien bei jedem Attentat verschieden, was den Anti-Terrorkräften der Polizei die Arbeit schwer mache. In Wien war der mutmaßliche Täter ein sogenannter "frustrierter Reisender": "Sie haben noch etwas zu beweisen, haben Kontakte zu einem Netzwerk und sind für eine Reihe von Anschlägen verantwortlich. Typisch ist auch, dass der Täter vorher in den sozialen Medien auf sich aufmerksam machte". Für diese konkrete Beziehung zum Kern der Bewegung spricht auch, dass sich der sogenannte Islamische Staat jetzt offiziell zu dem Attentat von Wien bekannt hat.

Trauer in Frankreich nach der Messerattacke in Nizza am 29. Oktober Bild: NorbertScanella/PanoramiC/imago images

In Nizza dagegen habe der Täter weniger reale Kontakte gehabt und sei vermutlich vor allem im Internet radikalisiert worden. Viele dieser Art von Attentaten blieben "ohne Flagge", das heißt keine bekannte Dschihadisten-Organisation bekennt sich dazu. "Der Umriss der Personen, gegen die man kämpft, ist verschwommen und schwer zu erkennen", erklärt Thomas Renard. Einerseits existiere also die Bedrohung weiter und sei weniger vorhersehbar. Andererseits aber verliere die dschihadistische Botschaft langsam an Anziehungskraft, weil es kein reales Kalifat für ihre Anhänger mehr gibt.

Was tun?

Der Terrorforscher warnt vor politischen Überreaktionen, die kontraproduktiv wirken könnten. Die Sicherheitsbehörden müssten einerseits ihre Fehler analysieren und daraus lernen. Andererseits wisse man heute, dass die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Schulen, Gefängnissen, sozialen Diensten und Online-Überwachung die besten Resultate bringe. Man brauche besonders ein Frühwarnsystem für Radikalisierung bei Jugendlichen, denn sie Mehrzahl der Täter ist zwischen 18 und 25 Jahren alt.

"Wir haben sie über der Corona-Epidemie vergessen, aber sie haben uns nicht vergessen", sagt Alexander von Rosenbach vom International Center for Counter-Terrorism in Den Haag. Dschihadisten würden opportunistisch handeln und die Gelegenheit sehen, Staaten und Gesellschaften im Moment der Schwäche anzugreifen. "Niedrig hängende Früchte", nennt der Terrorismus-Forscher die gegenwärtige Welle von Attacken vor allem in Frankreich.

Flaggen auf Halbmast nach dem Terrorangriff in WienBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Was die Gefahr von Nachahmungstaten angeht, sieht er eine Rolle für Politik und Medien: Eben weil es da draußen radikalisierte Individuen gebe, solle man die Flammen so wenig wie möglich anheizen. "Man sollte ihre Ideen und ihre Namen so wenig wie möglich paradieren, um den Lohn für ihre Taten zu verringern, der in der öffentlichen Wahrnehmung besteht".

Auch er spricht sich für einen verbundenen Ansatz gegen den Terror aus: Die Täter suchten in Dschihadisten-Netzwerken eine Gemeinschaft und ein Narrativ, das ihrem Leben einen Sinn verleihe. Die europäischen Länder müssten also die Debatte über soziale Ausgrenzung und Benachteiligung führen und verstehen, warum Menschen sich als Outsider fühlten. Denn durch Marginalisierung würden radikale Ideen befeuert. "Man kann die Debatte nicht nur unter Sicherheits-Gesichtspunkten führen", sagt Alexander von Rosenbach.

Den Kampf gegen den dschihadistischen Terror gebe es inzwischen seit etwa 20 Jahren, in unterschiedlicher Intensität. Derzeit aber müsse man erkennen: "Der Terrorismus ist da, um zu bleiben".

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