Das Europäische Parlament hat nach langem Wahlmarathon einen neuen Präsidenten. Das ist gewiss nicht die wichtigste Nachricht des Tages, aber für die EU ist sie dennoch beachtenswert. Zum ersten Mal haben die Abgeordneten die etwas umständliche Geschäftsordnung des Parlaments bis zum Letzten ausgereizt und in einer wirklichen Kampfabstimmung den konservativen Antonio Tajani auf den Schild gehoben. Es wurde nicht im Hinterzimmer gekungelt. Es gab keine Absprachen. Koaltionen wurden gekündigt, neue Bündnisse geschmiedet. Eine zutiefst demokratische Übung also.
Niemand kann dem Parlament vorwerfen, was EU-Skeptiker ja gerne machen, es sei nicht frei in seinen Entscheidungen. Über den Berlusconi-Vertrauten Antonio Tajani mag man denken, was man will. Er wird ein anderer Präsident als Martin Schulz (SPD) werden. Schulz nutzte das eigentlich protokollarische Amt, um Politik zu machen, Mehrheiten im Parlament und Kompromisse mit dem Ministerrat und der EU-Kommission zu schmieden. Er hat seine Kompetenzen gedehnt. Er hat dem Parlament ein Gesicht und sich eine Bühne gegeben. Tajani wird eher eine ruhige Kugel schieben. Der Italiener hat wenig Ehrgeiz und will eher repräsentieren als agieren.
Das Amt des Präsidenten wird auf Normalmaß zurechtgestutzt. Er wird in der öffentlichen Wahrnehmung wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Das Parlament verliert sein Gesicht, zumindest im größten Mitgliedsland Deutschland, wo Martin Schulz inzwischen sogar die Kanzlerkandidatur oder das Außenministerium zugetraut werden. Noch bedenklicher ist aus Sicht des Parlaments aber, dass die Kampfabstimmung das Ende der informellen großen Koaltion in Straßburg und Brüssel bedeutet. Konservative und Sozialdemokraten haben gemeinsam Gesetze verabschiedet und mit der anderen Gesetzgebungskammer, dem Rat, verhandelt. Das ist nun vorbei.
Jetzt müssen mühsam wechselnde Mehrheiten organisiert werden. Das kostet Zeit und macht Entscheidungen unberechenbar. Die europafeindlichen Populisten könnten öfter als bisher Zünglein an der Waage werden. Die europäische Gesetzgebung könnte sich verlangsamen und ineffizienter werden. Das ist etwas, das die EU in Zeiten der Krisen und Herausforderungen, von Brexit, über Trump, bis hin zu den Fragen der inneren Sicherheit und Migration, überhaupt nicht gebrauchen kann. Die Kräfte der Mitte im Parlament sollten wieder zueinander finden. Es wäre besser für Europa.
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