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Gesellschaft

Europas Corona-Endspurt

7. Juni 2021

Die Pandemie ist zwar nicht vorbei, aber der Erfolg der Impfkampagnen macht Hoffnung. Doch nicht überall in der EU gleichermaßen. Schuld sind ein großes Wohlstandsgefälle und unterschiedliches Krisenmanagement.

Symbolbild | Coronavirus | Impfstoff EU
Der Impfmarathon in der EU hat begonnen, doch das Tempo ist in den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich Bild: Thiago Prudencio/ZUMAPRESS/picture alliance

Es sind Zahlen, die optimistisch stimmen. In den meisten Ländern Europas gehen die Zahlen der an oder mit Corona verstorbenen Menschen zurück, und zwar drastisch. Ausschlaggebend dafür ist die zunehmende Immunisierung der Bevölkerung, insbesondere der älteren Menschen. Die Pandemie ist natürlich nicht vorbei. Aber vieles spricht dafür, dass Europa auf gutem Wege ist, den "Endspurt" einzuläuten, Corona also absehbar in den Griff zu bekommen. 

Doch auf den zweiten Blick zeigt sich, dass nicht alle EU-Mitgliedsstaaten gleichermaßen an dieser positiven Entwicklung teilhaben. In Ländern wie Bulgarien, Rumänien und der Slowakei sorgen geringe Impfraten und schwache Gesundheitssysteme weiterhin für höhere Sterberaten (siehe Grafik) als im Rest der EU.

"Warum wurde mein Vater nicht geimpft?"

"Der Monat April wird für mich immer in schmerzhafter Erinnerung bleiben", schreibt Luba Kassova. "Während ich meine erste Impfung in Großbritannien erhielt, starb mein ungeimpfter 85 Jahre alter Vater in Bulgarien. Warum wurde ich als Frau mittleren Alters durch eine Impfung geschützt, und rund 90 Prozent der über 80-Jährigen in Bulgarien nicht?"

Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei konnten die Trendwende noch nicht schaffen

Luba Kassova ist Gründerin der angesehenen Beraterfirma Akas in London, die Medien bei der Kommunikation mit ihren Nutzern berät. Ihr verzweifelter Hilferuf wurde in der britischen Zeitung "Guardian" abgedruckt.

Impfpriorisierung aufgehoben

02:15

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Der Beitrag zeigt, wie innerhalb der Europäischen Union das Wohlstandsgefälle und die unterschiedliche politische Ausrichtung der einzelnen Mitgliedsstaaten während der Corona-Pandemie über Leben und Tod entscheiden können.

"Hotspots" Belgien und Bulgarien

Dies fängt bei der medizinischen Versorgung an. Nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat kommen zum Beispiel in Polen 238 Ärzte auf 100.000 Einwohner - der niedrigste Wert in der EU. In Ungarn sind es 338, in Belgien 312 und in Großbritannien 284. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Versorgung bei 431 Ärzten auf 100.000 Einwohner.

In Bulgarien scheint die ärztliche Versorgung mit 421 Ärzten pro 100.000 Einwohnern auf den ersten Blick relativ gut zu sein. Dennoch weist das Land weist nach Erhebungen der John-Hopkins-University mit vier Prozent den höchsten sogenannten "Fall-Verstorbenen-Anteil" innerhalb der EU auf.

Die Fallsterblichkeit setzt die Anzahl der Corona-Infizierten mit den an oder mit Corona Verstorbenen ins Verhältnis. Auch in Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Italien ist dieser Anteil höher als bei anderen EU-Mitgliedern.

In Bulgarien, Rumänien, Tschechien und der Slowakei verläuft der Impfprozess nur schleppend

Die Statistiken belegen, dass die Fallsterblichkeit überall dort hoch ist, wo ältere Bevölkerungsgruppen nicht prioritär geimpft werden, öffentliche Gesundheitssysteme unterfinanziert sind, und Skepsis gegenüber Impfungen weit verbreitet ist.

In Italien zum Beispiel hatten bis Mitte Februar dieses Jahres nur sechs Prozent der über 80-Jährigen zumindest eine Impfdosis erhalten. In Deutschland waren es laut Robert-Koch-Institut (RKI) 20 Prozent, in Frankreich 23 Prozent.

Datenexperte Matteo Villa vom italienischen Institut für internationale Politik (Ispi) glaubt, dass "Italien Menschenleben hätte retten können, wenn das Gesundheitspersonal in zwei Monaten anstatt in einem geimpft worden wäre, wie es Deutschland und Frankreich gemacht haben".

Die Italiener hätten ihre Impfdosen schlechter zum Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerung über 80 Jahre eingesetzt, erklärte Villa gegenüber der italienischen Presse. Denn bei dieser Bevölkerungsgruppe führe eine Corona-Infektion besonders häufig zum Tod.

Vorbild Frankreich?

Italien verharrte bis Ende 2020 auf einem konstant hohen Niveau der Sterblichkeit. Erst seit Jahresbeginn sank die Zahl der an oder mit Corona Verstorbenen und damit auch die Sterblichkeitsrate drastisch auf mittlerweile knapp drei Prozent.

"Hier zeichnet sich ein Effekt der Impfung ab", erklärt Dominik Stillfried, Chef des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI), gegenüber der Zeitung "Handelsblatt". Die rückläufige Fallsterblichkeit sei eine Folge davon, dass das Durchschnittsalter der Infizierten auf unter 40 Jahre gesunken sei. Das niedrigere Durchschnittsalter reflektiere die hohe Impfquote in den oberen Altersgruppen.

Bemerkenswert sind die Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien. Das Vereinigte Königreich wies Ende November vergangenen Jahres noch eine Fallsterblichkeit von über 15 Prozent auf. Diese ist mittlerweile auf 2,84 Prozent gesunken.

In Frankreich sank die Sterblichkeitsrate von einem Rekordwert von knapp 24 Prozent im April 2020 auf 2,4 Prozent im Januar dieses Jahres und erreichte am 4. Juni den Wert von 1,91.

Für Luba Kassova ist das nicht wirklich ein Trost. "Als mein Vater am 8. April starb, hatten sieben Prozent der bulgarischen Bevölkerung über 80 Jahre mindestens eine erste Impfdosis bekommen, während der Anteil in Großbritannien bei 97 Prozent lag", schreibt sie im "Guardian".

Auch einen Monat danach hatte sich die Lage nicht wesentlich verbessert. Der Anteil der geimpften über 80-Jährigen war auf gerade einmal zehn Prozent angestiegen. Kassovas Schlussfolgerung: "Mein Vater war wirtschaftlich nicht mehr wichtig für die Gesellschaft, deswegen galt auch sein Leben als weniger schützenswert."

 

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