Neue Mafia
1. Oktober 2014Vielleicht hat nicht ohne Grund eine italienische Universität den Zuschlag für die Untersuchung erhalten: Die Heimat der Mafia hat eine Menge Erfahrung mit dem organisierten Verbrechen. Doch mafiöse Strukturen haben sich nach der Studie, die die EU mitfinanziert hat, längst auf ganz Europa ausgebreitet. London, Paris, Madrid oder Berlin sind Brennpunkte. Der Autor der Studie, Professor Michele Riccardi von der Katholischen Universität vom Heiligen Herzen in Mailand, schätzt, dass Verbrecher mit Produktpiraterie, Drogenhandel oder Zigarettenschmuggel jedes Jahr mehr als hundert Milliarden Euro verdienen. Allein mit Nachahmerprodukten würden pro Jahr 42 Milliarden erzielt, also fast die Hälfte des Gesamtumsatzes. Riccardi nennt die Produktpiraterie im Gespräch mit der Deutschen Welle ein "unterschätztes" Verbrechen.
Sebastian Fiedler, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, nennt die Zahlen im DW-Interview sogar "eine äußerst konservative Schätzung". Allein für Deutschland gehe die Industrieländerorganisation OECD von einem Volumen von 50 Milliarden Euro Umsatz aus kriminellen Quellen aus. Denn, so Fiedler, der gesamte Bereich der Steuerkriminalität, zum Beispiel das große Problem der Umsatzsteuerkarusselle, bleibe bei der Mailänder Studie außenvor.
Bargeldintensives Waschen
Das Schwierige für die Ermittlungsbehörden ist, dass die Einnahmen aus der Organisierten Kriminalität möglichst sofort in die legale Wirtschaft fließen. "Der Kriminelle", so Fiedler, "will dadurch die wahre Herkunft seiner Ware verschleiern und ihnen einen legalen Anstrich verpassen". Ein typischer Bereich dafür ist das Gaststättengewerbe, weil es bargeldintensiv ist, aber auch das Bauwesen und hier vor allem der öffentliche Bau. Riccardi erklärt das so: "Es gibt Subventionen, es gibt das öffentliche Beschaffungswesen, und kriminelle Gruppen, die Politiker bestechen oder einschüchtern können oder die in den politisch-administrativen Bereich eindringen, haben leichtes Spiel."
Aber Kriminelle nutzten auch neue Branchen wie die erneuerbaren Energien, weil deren Kontrolle oft noch schwach oder erst im Aufbau sei, glaubt Riccardi: "Das nutzen Verbrecher aus und infiltrieren diese Bereiche." Sebastian Fiedler weist darauf hin, dass Geldwäsche auch ein großes Problem für die legale Wirtschaft ist, "weil es zu massiven Wettbewerbsverzerrungen führt", ein Phänomen, das oft noch wenig beachtet werde. Daher hätten auch Unternehmer ein Interesse an der Aufklärung der Geschäftspraktiken ihrer kriminell unterwanderten Konkurrenz.
Man muss an das Vermögen der Täter heran
Die Studie beschreibt deutsche Städte wie Köln, Duisburg und Stuttgart als Drehscheiben der italienischen Mafia, Berlin als Tummelplatz dunkler Geschäftemacher aus Russland, die im Immobilienmarkt aktiv sind. Ist das nicht übertrieben? Keineswegs, sagt Fiedler: "Das kann ich absolut bestätigen, das ist aber nur ein kleiner Auszug der Probleme, die wir haben". Deutschland sei leider "nicht nur ein Ruhe- und Rückzugsraum, sondern auch ein Investitionsraum für die italienische Mafia". Gefragt nach möglichen Lösungen, nennt der deutsche Kriminalbeamte vor allem eines: "Maßnahmen müssen beim Vermögen der Täter ansetzen." Das sei der Nerv der organisierten Kriminalität, jede Gegenmaßnahme müsse vor allem dort ansetzen. Doch eine Gesamtstrategie vermisst er bisher bei der Bundesregierung.
Michele Riccardi kann aus den italeinischen Erfahrungen mit der Mafia Lehren weitergeben. Bewährt habe sich vor allem "die Beschlagnahmung von Unternehmen, die von Verbrechern kontrolliert werden", das sei das wahrscheinlich erfolgreichste Instrument der Polizei gegen die Mafia seit 30 Jahren. Das sollten auch andere Länder anwenden. Daneben: ein größeres Bewusstsein bei Polizei und Zivilgesellschaft, dass Kriminelle in die legale Wirtschaft einsickern und sie von sich abhängig machen können.
Politiker "zum Jagen tragen"
Dass mehr internationale Zusammenarbeit notwendig ist, dürfte bei dem Thema selbstverständlich sein. Bei manchen Ländern keine leichte Aufgabe. Bei dem angespannten Verhältnis zu Russland beispielsweise können die Behörden von EU-Staaten im Moment mit wenig Kooperation aus Moskau rechnen. Sebastian Fiedler sieht aber auch innerhalb der EU die Kommission in der Pflicht. Als es um die Hilfsgelder für Zypern ging, habe man vor dem "überraschenden" Phänomen gestanden, dass die Insel eine Geldwaschanlage für Russen sei. "Hier muss die Kommission auf Knopfdruck wissen, wie die einzelnen Länder sich im Bereich der Geldwäscheprävention aufstellen".
Und in diesem Zusammenhang müsse Europa auch mehr tun, um Steueroasen trockenzulegen. Geldwäsche und Steueroasen hingen sehr eng zusammen. Michele Riccardi sieht den Wert seiner Studie darin, besonders gefährdete Wirtschaftszweige und geographische Brennpunkte aufzuzeigen, damit die Polizei in den einzelnen EU-Ländern diese Punkte identifizieren und besser überwachen könne. Sebastian Fiedler in Deutschland ist froh über jede Untersuchung, "die ein bisschen mehr Licht ins Dunkel bringt"; viele Politiker müssten "zum Jagen getragen werden", damit sich endlich etwas tue.