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PolitikEuropa

Europas Verteidigung: Geld allein schafft keine Sicherheit

28. Juni 2023

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Europäer sicherheitspolitisch aufgeweckt. Viel Geld soll in die Verteidigung fließen. Aber das allein wird nicht reichen.

Boris Pistorius (SPD, M), Bundesminister der Verteidigung, steht zusammen mit Generalleutnant Martin Schelleis (l), Inspekteur der Streitkräftebasis, auf einem Fahrschulpanzer vom Typ Leopard 2
Der Ukraine-Krieg hat die Europäer aufgeweckt. Verteidigungsfähigkeit bekommt PrioritätBild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa/picture alliance

Europa ist verwundbar. Das ist eine zentrale Lehre aus dem russischen Angriff auf die Ukraine. Und Europa reagiert. Vor allem mit Geld. Die Bundesregierung zum Beispiel hat ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen aufgelegt, um die am weitesten klaffenden Lücken zu schließen.

Und Deutschland will künftig zwei Prozent seines Sozialprodukts fürs Militär ausgeben, so wie es die NATO-Mitgliedsstaaten schon 2014 als Ziel formuliert hatten. 2022 allerdings hatten von den europäischen NATO-Verbündeten gerade mal vier Staaten das zwei Prozent-Ziel erreicht. In Reaktion auf den Ukraine-Krieg haben jetzt 20 Staaten der Europäischen Union versprochen, ihre Militäretats deutlich zu erhöhen.

Aber, warnt der neue European Defense Report der Münchner Sicherheitskonferenz: Die zusätzlichen Mittel seien zwar enorm wichtig. Die Kunst bestehe allerdings darin, das Geld möglichst effizient auszugeben.

Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Für ihren Bericht hat sich die Münchner Sicherheitskonferenz, MSC, zunächst genau angeschaut, wie der Krieg in der Ukraine geführt wird. Daraus hätten die Berichtsautoren drei wesentliche Lektionen gezogen, sagt Leonard Schütte, der maßgeblich an dem Bericht mitgearbeitet hat, im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Die erste ist, dass sogenannte 'alte Militärgüter' - sprich: Panzer, Artillerie, Flugabwehr - weiterhin eine Riesenrolle spielen."

"Alte Militärgüter" sind noch immer gefragt - eine Lektion aus dem Ukraine-KriegBild: Bulent Kilic/AFP

Die zweite Lektion scheine nur auf den ersten Blick der ersten Lektion zu widersprechen, weil es um 'neue Militärgüter' geht: "Wir sehen gerade in der Ukraine, das gleichzeitig sehr billige Drohnen und Loitering Munition,  eine riesige Rolle spielen." Also Lenkwaffen, die längere Zeit über einem Ziel kreisen können. Als dritte Lektion unterstreichen die MSC-Autoren, "dass satellitenbasierte Kommunikation extrem wichtig ist: Zum einen, um diese Drohnen zu steuern, aber auch, um die Kommunikation zwischen den verschiedenen Truppenteilen zu gewährleisten", so Schütte im DW-Interview.  

Das ukrainische Militär etwa nutzt intensiv das von dem US-Unternehmer Elon Musk aufgebaute Netz von erdnahen Satelliten des Star-Link-Systems. In der EU, erklärt MSC-Experte Schütte, wolle man sich auf mittlere Sicht von privaten Unternehmen unabhängig machen. "Es gibt eine EU-Initiative, die bis zu 170 Satelliten in diesen Low-Earth-Orbit schießen will. Damit soll diese Fähigkeitslücke geschlossen werden."  

Kommunikation ist Trumpf - und hängt noch von Elon Musks Starlink System abBild: Yasuyoshi Chiba/AFP/Getty Images

Zersplitterte Rüstungsindustrie

Sollte das gelingen, wäre es ein seltenes Beispiel für eine gelungene Militär-Kooperation innerhalb der EU. Die EU hat schließlich nicht eine europäische Armee; die 27 Mitgliedsstaaten unterhalten jeweils ihre eigenen nationalen Armeen. Und ein knappes Dutzend EU-Staaten verfügt über eine eigene Rüstungsindustrie. Mit der Folge einer unheilvollen Zersplitterung, beklagt der SPD-Politiker Hans-Peter Bartels. "Ein wesentliches Hindernis ist die Kleinstaaterei bei der Industrie. Wir haben viel zu viele Systemfirmen in Europa, die mit Aufträgen über Wasser gehalten worden sind in der schlechten Zeit. Und jetzt, wo viel Geld fließt, sehen die natürlich erst recht keine Notwendigkeit zu fusionieren. Aber das macht das Ganze technisch extrem unübersichtlich - und teuer".

Bartels weiß, wovon er spricht. Er war fünf Jahre Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. Im DW-Gespräch analysiert er: "Wir brauchen wirkliche europäische Firmen! So wie Airbus im zivilen Bereich, die eine europäische Firma ist und für den Weltmarkt große Flugzeuge baut. Genauso bräuchten wir zumindest für die komplexen Groß-Waffensysteme maximal zwei oder drei europäische Firmen, die auf höchstem Niveau miteinander konkurrieren können."

Beklagt die "Kleinstaaterei in der Rüstungsindustrie": Hans-Peter Bartels war fünf Jahre Wehrbeauftragter des Bundestages.Bild: Volodymyr Tarasov/Avalon/Photoshot/picture alliance

Kooperation? Ja, nein, ein bisschen

In Reden wird europäische Zusammenarbeit immer wieder beschworen. Bundeskanzler Olaf Scholz etwa forderte in seiner Regierungserklärung am 22. Juni: "Unsere Verteidigungsanstrengungen in Europa müssen gebündelt werden; wir müssen der Verteidigungsindustrie in Europa eine langfristige Perspektive geben und deren Produktion beschleunigen", betonte der Kanzler.

Die guten Vorsätze kollidieren in der Praxis allerdings schnell mit nationalen Egoismen. MSC-Sicherheitsexperte Schütte berichtet: "Wir sind im Zuge der Forschung für den Report zurückgegangen und haben uns angeschaut, ob es überhaupt positive Beispiele der gemeinsamen Rüstungskooperation gibt, von denen man lernen kann. Da gibt es nur sehr, sehr wenige."

Die ausgeprägte Fragmentierung führt laut Berichtsautor Schütte nicht allein zu unnötigen Mehrausgaben. Ihn besorgen auch die hohen militärischen Kosten: "Wir sehen das ja an ganz profanen Dingen wie Munition für Artillerie. Da kann man die Munition, die in Deutschland gekauft wird, nicht in die Artillerie von anderen Staaten stecken, weil es unterschiedliche Standards sind. Das ist absurd."  

Aber selbst wo Kooperation draufsteht, ist oft Zerwürfnis drin. Zum Beispiel beim deutsch-französisch-spanischen Projekt FCAS: Die gemeinsame Entwicklung eines zukünftigen Luftkampfsystems habe sich zum Schauplatz eines endlosen Streits über Patentrechte, über Arbeitsanteile und über Führungsverantwortung entwickelt, beklagt Wehrexperte Bartels. "Davon müssen wir weg! Solche Projekte sollten in der Hand einer wirklich europäischen Firma liegen, die Gesamtverantwortung übernimmt", sagt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik, GSP.

Schickes Modell - aber hebt es jemals ab? Olaf Scholz, Emmanuel Macron und FCAS-Chef Bruno Fichefeux lächeln tapfer in die KamerasBild: Benoit Tessier/AP Photo/picture alliance

Große Probleme gibt es auch beim deutsch-französischen Vorhaben, gemeinsam einen hochmodernen Kampfpanzer zu bauen, bekannt unter dem Kürzel MGCS für Main Ground Combat System. Das Projekt wird verschleppt – und die deutsche Rüstungsindustrie produziert bereits Alternativen.

Wann, wenn nicht jetzt

Der Ukraine-Krieg habe allen Beteiligten endlich die Dringlichkeit einer besseren und vor allem effektiveren Zusammenarbeit vor Augen geführt. Darin sieht Leonard Schütte auch eine Chance: "Wenn wir nicht jetzt unsere Kooperation verändern, wann denn dann?" 

Schütte macht bereits erste Veränderungen aus. "Die EU fängt in Reaktion auf den Krieg zum allerersten Mal an, finanzielle Anreize für gemeinsame Beschaffung zu setzen. Das gab es vorher noch nicht."  

Der European Defense Report spricht einen weiteren Problempunkt an: Die Beschaffungslücken in den vergangenen Jahrzehnten seien so groß geworden, dass etliche Staaten jetzt große Rüstungsaufträge an Firmen außerhalb Europas vergeben. Weil die benötigten Rüstungsgüter dort schnell verfügbar seien. Das aber schwäche die europäische Rüstungsindustrie - und schaffe langfristige Abhängigkeiten. Ein Dilemma tut sich auf zwischen Schnelligkeit und europäischer Souveränität. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat sich entschieden: Für Tempo. "Der Faktor Zeit", so steht es in einem Erlass des Verteidigungsministeriums von Ende April, "hat höchste Priorität und ist mit sofortiger Wirkung als der wesensbestimmende Faktor aller laufenden und neuen Rüstungsvorhaben der Bundeswehr maßgebend, um zu beschaffende Produkte so schnell wie möglich für die Truppe nutzbar zu machen."

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