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Politik

Volksparteien im Entstehen und Vergehen

27. Mai 2019

Nach der Europawahl schwankt das politische Berlin zwischen Entsetzen und Aufbruch. Und Kanzlerin Merkel? Sie bleibt im Hintergrund. Aber sie ist im Gespräch.

Deutschland | PK  Sven Giegold und Robert Habeck (Grüne) | Europawahlen 2019
Wahlsieger: Sven Giegold (l.) und Robert Habeck von den GrünenBild: Getty Images/AFP/M. Tantussi

Am Morgen danach blieb Angela Merkel (CDU) unsichtbar. Für die Kanzlerin steht erst am Abend ein presseöffentlicher Termin an. Derweil war CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer seit dem Morgen mit der Krisenbewältigung im Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der Christlich Demokratischen Union (CDU), beschäftigt.

Vielleicht schauten beide zwischendurch mal auf die Ergebnisse in der Heimat, im eigenen Wahlkreis. In Kramp-Karrenbauers Wohnort, dem saarländischen Püttlingen, erreichte die CDU bei der Europawahl 38,0 Prozent, 0,4 Prozentpunkte weniger als 2014. In Merkels Bundestags-Wahlkreis im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern verlor die CDU dagegen weit mehr als zehn Prozentpunkte auf nur noch knapp 30 Prozent und schnitt auch deutlich schlechter ab als bei der Bundestagswahl 2017.

"Tektonische Verschiebungen"

Ein Schatten auf der Vorsitzenden - CDU-Chefin Annegret Kramp-KarrenbauerBild: Getty Images/S. Gallup

Liegt das bislang schlechteste EU-Wahlergebnis der CDU also doch an Merkel? Einzelne Stimmen aus den hinteren Reihen, keine großen Namen, hatten das seit Sonntagabend aufgegriffen und einen raschen Wechsel im Kanzleramt gefordert. Der Chef der Union-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, ein Merkel-Kritiker, sagt deutlich: "Die Union ist dabei, den Status als Volkspartei zu verlieren."

Die Parteispitze sieht das anders. CDU-Vize Volker Bouffier spricht von "tektonischen Verschiebungen", sein Kollege Armin Laschet von einem "Weckruf an die Politik". Die Parteichefin selbst geht an den Wesenskern der Christdemokratie: Es sei nun eine "historische Situation, bei der es um die Frage geht, ob das Konzept der Volkspartei noch für die Zukunft" funktioniere. "Volkspartei" - seitdem Kramp-Karrenbauer im Herbst 2018 ins Rennen um die Merkel-Nachfolge einstieg, sprach sie von der CDU als "letzte verbliebene Volkspartei", die alle gesellschaftlichen Gruppen abdecke. Dann kam Greta Thunberg und "FridaysforFuture", schließlich auch Youtuber Rezo und seine Fundamentalkritik an der großen Koalition von CDU/CSU und SPD - mit Rückenwind fast aller prominenten Youtuber in Deutschland.

Grün und groß

Das führt zu jener Partei, die man getrost als Sieger der Wahl in Deutschland bezeichnet kann. Die Grünen haben ihr Ergebnis nahezu verdoppelt und vor allem: Sie sind in neun der zehn größten deutschen Städte stärkste politische Kraft. Am Abend haben sie noch gefeiert. Am Morgen stellen sich Spitzenkandidat Sven Giegold (im Titelbild links) und Parteichef Robert Habeck souverän und fast kanzlerhaft gelassen den Fragen der Medien.

Irgendwann platzt es aus Giegold heraus, dass auf ihn diese Pressekonferenz "surreal" wirke. Das Wahlergebnis stehe für mehr Klimaschutz, für mehr Europa - und nun fragten die Journalisten und Journalistinnen nach Bündnisoptionen in der Bundespolitik und Fehlern der CDU. Habeck und Giegold vermeiden den Begriff "Volkspartei". Aber sie umschreiben respektvoll die Chancen und Herausforderungen, vor denen ihre 80.000-Mitglieder-Partei steht.

Im Ostdeutschland etabliert: die AfDBild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

Die Alternative für Deutschland (AfD), deren Spitzenvertreter einige Minuten nach den Grünen in der Bundespressekonferenz an denselben Mikrofonen sitzt, ist kein Sieger, obwohl sie in mehreren ostdeutschen Bundesländern beeindruckende Ergebnisse einfährt. Zugleich kommt sie in elf Bundesländern nicht über zehn Prozent hinaus. Im Herbst stehen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen an. Dort sind die Rechtspopulisten bei der Europawahl die stärkste oder - in Thüringen - fast die stärkste Kraft. AfD-Chef Jörg Meuthen hält angesichts der Stärke seiner Partei im Osten Deutschlands Regierungsbeteiligungen in der Zukunft für möglich. "Gut Ding will Weile haben", sagte er am Montag in Berlin.

"Nicht überstürzt"

Die SPD ist so sehr im Mark erschüttert, dass es keine schnellen Forderungen nach personellen Konsequenzen gibt. Man dürfe jetzt "nicht überstürzt reagieren", sagt der Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider, einer der wenigen, die sich am Morgen äußern. Erstmals überhaupt ist die stolze alte Partei bei einer bundesweiten Wahl nur drittstärkste Kraft nach den Grünen. Bei Erstwählern bundesweit und in den Bundesländern Sachsen und Bayern insgesamt bleibt das Ergebnis der SPD einstellig. Ist das noch Volkspartei?

Blickt sorgenvoll in die Zukunft: SPD-Chefin Andrea Nahles Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Zunächst ist die Pressekonferenz der SPD nach der Vorstandssitzung auf 11.30 Uhr terminiert. Dann wird sie mehrfach verschoben, bis Parteichefin Andrea Nahles um 14.30 Uhr müde da steht und Zeit für drei Fragen hat. Mehr Zeit hat Nahles nicht. Denn sie hat noch einen Termin. Ebenso wie Vizekanzler Olaf Scholz und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht sie am frühen Abend im Kanzleramt mit Merkel über die europäische Lage.

"Keine Kabinettsumbildung"

So bleibt nach der Europawahl bundespolitisch vorerst eine einzige große Personalie. Bundesjustizministerin Katarina Barley, Bundesjustizministerin und Spitzenkandidatin bei der Europawahl, scheidet aus dem Regierungsamt aus und wechselt als Europaabgeordnete nach Brüssel. "Das Entlassungsgesuch wurde gestern auf den Weg gebracht", sagt eine Sprecherin des Ministeriums der Deutschen Welle. Eine Stunde später sagt Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz, das Gesuch sei "nach seinem Wissensstand noch nicht eingegangen". Zeitdruck rausnehmen – der Wechsel an der Spitze des Ministeriums wird also zeitnah passieren. Seibert sagt noch kurz einen Satz, der irgendwie lange nachklingt. "Weitere Kabinettsumbildungen stehen nicht an." Merkel will offensichtlich keinen Bruch in der Arbeit der großen Koalition. 

Kramp-Karrenbauer, gut sechs Monate im Amt der Parteivorsitzenden, hat schon vor Wochen für Sonntag und Montag eine Klausurtagung des Bundesvorstands angekündigt. Nun lädt die SPD parallel für Montag zur Klausursitzung und will über Konsequenzen beraten. Bei beiden Parteien soll es auch um den Klimaschutz gehen - dem wohl wahlentscheidenden Thema der Europawahl. Krisensitzungen hier und da.