Digitale Bibliothek für jedermann
16. Mai 2014Die Erinnerung ist blass, aber sie ist da. Im Spätsommer 1989 war der damals 19-jährige Dirk Schaal wochenlang im Urlaub, die Schule war gerade geschafft, für den Herbst hatte er schon die Einberufung zur NVA, der nationalen Volksarmee der DDR bekommen. Noch ein letzter unbeschwerter Sommer mit Freunden sollte es sein, Politik und Revolution waren verdammt weit weg. Was da gerade im Osten Europas passierte, in Polen, der damaligen Tschechoslowakei und bei den Ungarn, die ihre Grenzzäune abbauten, von all dem bekam er kaum etwas mit.
Dirk Schaal steht etwas einsam im schicken Neubau der Leipziger Nationalbibliothek, bislang ist außer ihm kaum jemand gekommen zum Leipziger Aktionstag. Schaal ist heute Historiker, daher auch sein besonderes Interesse am Projekt. Für "europeana 1989" will er sein altes Schulzeugnis einscannen lassen, vielleicht seinen DDR-Reisepass und Erinnerungsstücke an die Zeit bei der NVA. Denn als in Leipzig die Montagsdemonstrationen begannen, rückte er als Soldat in die Kaserne ein.
9. November - "in diesem Moment nicht verstanden"
Abgeschottet erlebte er den ereignisreichen Herbst 1989 im Schützengraben an der DDR-Grenze zu Polen. Von den Demos, Verhaftungen und dem Beginn der Friedlichen Revolution bekam er nichts mit. "Wir lagen jeden Tag im Wald, bewachten die Grenze und mussten aufpassen, dass niemand aus der DDR nach Polen abhaut", erinnert er sich. Erst am 9. November bekam er Urlaub, nach Wochen sein erster Kontakt zur Außenwelt. Zu Hause sah er im Fernsehen, wie glückliche Menschen auf der Berliner Mauer tanzten. "Es war verdammt schwierig, das in diesem Moment zu verstehen", erinnert sich Dirk Schaal.
Es sind Erzählungen wie diese, die "europeana 1989" lebendig machen. Wie der Name verrät, ist es ein europäisches Projekt, es läuft bereits seit einigen Monaten. Aktionstage wie die ersten in Deutschland und jetzt in Leipzig gab es schon in Polen, Litauen, Lettland, Estland und der Tschechischen Republik. Mehr als 6000 Objekte wurden bereits digitalisiert und veröffentlicht. Die Erinnerungsstücke reichen von Spielzeug, etwa einem Teddybär aus Polen, über Filme und Fotos von der längsten Menschenkette in der Geschichte, dem "Baltischen Weg", bis hin zu handgemalten Flugblättern von Studenten aus Prag. Sogar ein "Polonez", ein typischer PKW polnischer Produktion, wurde ins Netz gestellt.
Digitale Bibliothek, Museum und Archiv in einem
"Damals wurde Geschichte geschrieben, nun müssen wir sie aufschreiben", sagt Frank Drauschke der das Projekt mit aufgebaut hat. Mit der umfangreichen Sammlung will er lokale und nationale Erzählungen zu einer Geschichte Europas rund um 1989 verbinden, eine digitale Bibliothek schaffen, ein Museum und Archiv. Deshalb wird auch in den kommenden Monaten weiter dazu aufgerufen, persönliche Geschichten, Fotos und Erinnerungen zu sammeln und zu veröffentlichen. Jeder kann das, ganz einfach direkt über die Homepage. "Man kennt die Geschichte und Geschichten aus seiner Region, aber was im Baltikum genau passiert ist oder in Ungarn genau, das wissen nur wenige." Deshalb will Drauschke die Geschichten in diesem Archiv vereinen, er wünscht sich auch noch mehr Erzählungen und Dokumente aus dem Westen Europas.
Ad Pollé betreut das Projekt von den Niederlanden aus, er ist extra zum Aktionstag nach Leipzig gereist, in die Stadt der Friedlichen Revolution. Natürlich sei das erst einmal ein osteuropäisches Thema, die Revolution habe nun einmal im Osten begonnen. "Aber auch im Westen sind durch die Ereignisse 1989 jede Menge Umbrüche passiert", meint er und hofft, dass auch von dort in den nächsten Wochen noch mehr Geschichten kommen. Allerdings passiert auch in Leipzig erst einmal relativ wenig, die Scanner und Digitalkameras ruhen. "Viele denken vielleicht, dass ihr Beitrag zur Geschichte zu unbedeutend ist", vermutet Ad Pollé. Aber das stimme nicht, schiebt er hinterher, "wir alle wollen sie hören."
Eine der skurrilen Figuren an der gefallenen Berliner Mauer
Seine persönliche Geschichte zu erzählen und dann auch noch zu veröffentlichen sei immer schwierig, meint auch Dirk Schaal. Dabei sind es genau diese Erzählungen, die Geschichte lebendig machen. Wenige Tage, nachdem er im Fernsehen die tanzenden Menschen auf der Mauer gesehen hatte, musste er zurück in die Kaserne. Er wurde nach Berlin abkommandiert, genau an eben diese Berliner Mauer. "Wochenlang war ich dann eine dieser Figuren in Uniform, die direkt am Brandenburger Tor stehen und die vermeintliche Souveränität der DDR verteidigen musste." Heute muss Dirk Schaal darüber lachen, weil "die Geschichte so absolut skurril war". Schön ist es nun, sie nach 25 Jahren persönlich von einem Zeitzeugen zu erfahren.