Evgeny Nikitin ist der neue Bayreuther Holländer
14. Juni 2012 Schon äußerlich ist Evgeny Nikitin eine Erscheinung: gefühlte zwei Meter groß und bis an die Ohren tätowiert. Ein russischer Bär mit einem monumentalen Bass. Geboren ist er vor 39 Jahren in Murmansk, einer Stadt hinter dem Polarkreis, wo die Sonne in den Wintermonaten gar nicht aufgeht. Sänger ist er nach eigener Auskunft "aus Angst vor der Armee" geworden: Das Studium am Petersburger Konservatorium schützte vor einem zweijährigem Zwangswehrdienst. Sein Vater, ein Dirigent, nützte alte Kontakte, um den nicht besonders fleißigen Nachwuchs immatrikulieren zu lassen. Evgeny war "lieber auf der Strasse mit den Jungs" und fand "das Leben spannender, als die klassische Musik". Das änderte sich allerdings, als der junge Sänger von Valery Gergiev, dem sogenannten "russischen Musikzaren", entdeckt wurde. Mit 24 debütierte er in der "mörderischen" Partie von Ruslan in Michail Glinkas "Ruslan und Ludmila" und wurde dann zu einem Hauptprotagonisten im Petersburger Wagner-Projekt. Hin und wieder spielt Nikitin in einer Rock-Band. Am 25. Juli 2012 debütiert er bei den Bayreuther Festspielen in der Titelrolle der Oper "Der fliegende Holländer".
DW: Wagner spielt in Ihrem Repertoire eine zentrale Rolle. Ist es Ihre Entscheidung oder eine Folge der Repertoirepolitik von Ihrem Stammhaus, dem Mariinsky-Theater in St. Petersburg?
Evgeny Nikitin: Sowohl als auch. Als ich zum Theater kam hatte Gergiev gerade seine "Wagner-Phase": Es wurden der "Ring", "Parsifal" und "Lohengrin" in Petersburg inszeniert. Ich bekam erst kleinere Rollen. Ich hielt damals grundsätzlich nicht viel von der Klassik. Indem ich aber stundenlang auf der Bühne mit dem Speer als irgendein "zweiter Ritter" oder so herumstand, habe ich Wagners gewaltige Musik für mich entdeckt.
Wie bitte? Sie sind doch ein studierter Dirigent und Sänger?
Na ja, ich konnte zwischen dem, was ich beruflich mache, und dem, was ich persönlich mag, gut trennen. Ich war jung und habe auch viele Fehler gemacht. So wollte ich zum Beispiel nach acht Semestern das Studium abbrechen. Die Einladung aus dem Mariinsky, die unerwartet für mich kam, hat mich davon abgehalten.
Sinken oder Schwimmen
Wie kam es zu dieser Einladung?
Gergiev kam in eine Prüfung, hörte mich und sagte: "lerne mal den Ruslan". Das war 1997, ich war 24. Es war schon krass: Es ist eine Partie, in der auch ein erfahrener Sänger durchfallen kann. Mein Debüt fand dann in New York statt, das war die Eröffnung des Mariinsky-Gastspiels bei der Metropolitan Opera. Das ist halt Gergievs Methode: Man springt ins tiefe Wasser, um schwimmen zu lernen.
Sie debütierten gerade auch als Boris in "Boris Godunov" von Mussorgsky in Petersburg, einer Schlüsselpartie des russischen Repertoires. Was sind für Sie die Besonderheiten bei Wagner und Mussorgsky?
Mussorgsky ist ein dramatischer Komponist, den kann man nicht mit kühlem Kopf singen. Einen Boris spielt man wie einen Shakespeare-Helden. Bei Wagner ist es umgekehrt: Man muss alles Theatralische eigentlich weglassen und penibelst dem Urtext folgen, nur so funktioniert es. Nach Wagner konnte ich Komponisten wie Donizetti oder Bellini gar nicht singen.
Warum?
Italienische Musik ist sehr auf äußerliche Effekte konzentriert, da muss man "schöne Stimme" zeigen. Diese vokalen "Zirkusnummern" sind nicht nach meinem Gusto, ist halt Geschmackssache. Dafür liebe ich deutsche Musik, von Praetorius und Schütz bis Schubert, Schumann und Brahms. In der deutschen Musik geht es eben um viel tiefere Dinge.
Die harte Schule der deutschen Sprache
Es ist für einen russischen Vokalisten gar nicht einfach, deutsch zu singen….
Ich habe zehn Jahre dafür gebraucht, meine deutsche Aussprache zu perfektionieren und meine dunkle slawische Aussprache "aufzuhellen". Ich habe gezielt deutsche Sänger kopiert. Die Aussprache, die Diktion hat dann auch die Stimme beeinflusst. Nun hört hoffentlich keiner, dass da ein Russe den Wagner singt.
Die Rolle des "Holländers" ist für Sie alles andere als neu: Sie haben sie nicht nur in Russland, sondern auch zum Beispiel in Leipzig und Baden-Baden gesungen. Wobei Sie die Leipziger Produktion ziemlich heftig in Ihren Interviews kritisieren. Sind sie kein Freund vom Regietheater?
Doch, Experiment muss sein, auch in der Oper. Aber von zehn Versuchen klappen vielleicht zwei oder drei. Deswegen ist die Gefahr, in eine schlechte Produktion zu geraten, so groß. Ansonsten geht es mir vor allem um das Musikalische. Ich folge dem Dirigenten und seinem Konzept: Er ist mein Kapitän, ich – sein Matrose.
Das Kapitel Bayreuth
Wie kam es zu der Einladung nach Bayreuth?
Katharina Wagner und Christian Thielemann haben mich zum Vorsingen nach München eingeladen. Das war im Sommer vor zwei Jahren. Dass mir dann diese Partie angeboten wurde, hat mich völlig überrascht.
Was haben Sie dabei empfunden? Sie sind der erste russische Sänger, der eine Titelpartie in Bayreuth singt.
Ich bin schon stolz. Das ist ein großer Sieg für mich und für die ganze Petersburger Vokalschule, finde ich. Wenn ich nach Hause aus Bayreuth komme, werde ich nicht jeden grüßen, vielleicht jeden zweiten. Spaß beiseite: Ehrlich gesagt, habe ich auch mächtig Schiss. Denn in Bayreuth wird mit mir bestimmt keiner Gnade haben. Es ist für mich eine harte Prüfung.
Der zweite Pass
Sie haben kaum einen Quadratzentimeter an Ihrem Körper, der nicht tätowiert wäre. Da werden die Bayreuther Maskenbildnern Einiges zu tun haben…
Ich bin gebeten worden, meine ganzen Tattoos zu fotografieren. Das wird wohl eher zur Schau gestellt als kaschiert.
Passt eigentlich zu ihrer Rolle. Was bedeuten aber diese ganzen Zeichnungen?
Unterschiedliches. Die sind zu unterschiedlichen Zeiten aus unterschiedlichen Anlässen entstanden.
Mein Körper ist sozusagen mein zweiter Pass.
Was bedeutet zum Beispiel dieser Wolfskopf am Handgelenk?
Das ist der Wolf Fendrich. Das steht für die Zeit, als ich ein Fan vom norwegischen Black Metal war.
Sie spielen auch selbst als Schlagzeuger in einer Rockband und singen auch Rock?
Jetzt nicht mehr, geht zeitlich nicht. Außerdem muss ich meine Ohren schonen. Aber früher war es für mich eine willkommene Alternative zur Opernbühne. Wie mein Vater sagte: "Söhnchen, beste Erholung ist Abwechslung".
Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.