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PolitikNahost

Ewiges Streitobjekt: Palästinenser-Hilfswerk in Not

10. Juni 2022

Das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA steckt in finanzieller Schieflage, manche seiner Dienstleistungen scheinen gefährdet. Zum notorischen Geldmangel kommt politischer Streit hinzu.

Palästina, Gaza | Menschen holen Nahrungsmittel an einem UN Verteilzentrum ab
UN-Nahrungsmittelhilfe in Gaza-StadtBild: Mahmud Hams/AFP/Getty Images

Philippe Lazzarini, Generalkommissar des "Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten" (United Nations Relief and Works Agency, UNRWA), schlug vor einigen Monaten Alarm: Die UNRWA stehe finanziell "am Abgrund", erklärte er Ende April. In Medien wurde er mit der Feststellung zitiert, dass dem Hilfswerk aufgrund rückläufiger Zuwendungen zuletzt jährlich rund 100 Millionen US-Dollar gefehlt hätten.

Es war nicht das erste Mal, dass Lazzarini vor einem Kollaps des unter anderem von Gaza-Stadt aus verwalteten Palästinenser-Hilfswerks warnte.

Das Grundproblem, so Lazzarini, sei die wachsende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben. "Die schmerzliche Realität ist, dass die der UNRWA zur Verfügung stehenden Mittel in den vergangenen zehn Jahren trotz enormer Anstrengungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und der Mittelbeschaffung stagnierten, während die Bedürfnisse der Palästina-Flüchtlinge und die Kosten für den Betrieb weiter steigen", so der UNRWA-Chef in seiner Erklärung von April. Zudem sind die internationalen Zuwendungen - nicht zuletzt auch die Geldzuflüsse aus arabischen Staaten - in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.

Bislang sei es zwar gelungen, die chronische Unterfinanzierung durch ständige Kostenkontrolle und äußerste Sparmaßnahmen in den Griff zu bekommen, so Lazzarini. Das reiche aber nicht, meint er: "Man kann nur hoffen, dass das Hilfswerk nicht implodiert." Angesichts der derzeitigen Situation werde sich die Qualität der UNRWA-Hilfsleistungen - unter anderem Unterstützung in medizinischer Versorgung, Bildung und Erziehung, humanitäre Maßnahmen - unweigerlich verschlechtern, warnte Lazzarini. Er schloss nicht aus, dass es notwendig werden könnte, Hilfsdienste komplett einzustellen. Palästinensische Sorgen, auch die UNRWA an sich könne perspektivisch komplett aufgelöst und der bisherige Status palästinensischer Flüchtlinge damit herabgestuft werden, versuchte er Anfang Juni bei einem Besuch in den palästinensischen Autonomiegebieten zu zerstreuen.

UNRWA-Chef Philippe LazzariniBild: Mahmud Hams/AFP/Getty Images

Die UNRWA versorgt eigenen Angaben zufolge 5,5 Millionen Flüchtlinge beziehungsweise deren Nachkommen - und das nicht nur in den palästinensischen Autonomiegebieten. UNRWA ist auch im benachbarten Ausland aktiv, etwa in Jordanien, Syrien und im Libanon, wo zahlreiche Palästinenser - meist weitgehend rechtelos - bis heute in größtenteils ärmlichen Verhältnissen leben, auch weil die seinerzeitigen Aufnahmeländer sie und ihre Nachkommen niemals einbürgern wollten: Die ihnen verweigerte Integration sollte aus Sicht der arabischen Aufnahmeländer von Beginn an verdeutlichen, dass die palästinensischen Flüchtlinge aus den israelisch-arabischen Kriegen seit 1948 und ihre Nachfahren ein andauerndes Recht auf Rückkehr hätten.

UNWRA wiederum spricht offiziell von 'Palästina-Flüchtlingen', um zu verdeutlichen, dass es bei der Arbeit und Zuständigkeit der Organisation prinzipiell von Beginn an um die geographische Herkunft der Flüchtlinge gegangen sei - und nicht um deren ethnische oder religiöse Herkunft.

Im laufenden Jahr hat das Hilfswerk ein Budget von immerhin 1,6 Milliarden US-Dollar (rund 1,5 Milliarden Euro). Deutschland und die EU gehören - nach einem vorübergehenden Stopp der amerikanischen Überweisungen unter Präsident Donald Trump - hinter den USA zu den wichtigsten Mittelgebern der UNRWA.

Ausbau von Partnerschaften?

Aufgrund der angespannten finanziellen Situation prüfe man derzeit die Möglichkeit, Partnerschaften innerhalb der UN-Struktur auszubauen, so Lazzarini, darunter laut aktuellen UNRWA-Angaben unter anderem das UN-Kinderhilfswerk UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO. 

Doch dieser Vorschlag stieß bei Vertretern der Palästinenser von Beginn an auf scharfe Kritik. Der palästinensische Premier Mohammed Schtajjeh sagte, der Plan verstoße gegen die UN-Resolutionen, mit denen UNRWA gegründet wurde. Ein Sprecher der in Gaza herrschenden radikalislamistischen Terrororganisation Hamas erklärte ergänzend, der Vorschlag sei ein "Versuch, die UNRWA zu demontieren, um ihre Arbeit zu beenden". Klar ist hier zu erkennen: Die palästinensischen Vertreter sehen UNRWA als wichtige Unterstützung für ihre politischen und wirtschaftlichen Anliegen - einschließlich Bildung und Gesundheitsversorgung - und fürchten einen Bedeutungsverlust für die palästinensischen Anliegen an sich.

Nachlassende Aufmerksamkeit

Die Probleme der UNRWA-Finanzierung spiegeln freilich schon jetzt die insgesamt nachlassende globale Aufmerksamkeit für den Nahostkonflikt und zugleich einen spürbaren Rückgang der Solidarität mit den Palästinensern in den politischen Führungen mehrerer arabischer Länder wider. So argumentiert die Politologin Muriel Asseburg, Senior Fellow an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der Nahostkonflikt werde "schon länger nicht mehr als Schlüsselkonflikt in der Region gesehen". Zudem drücke sich im Rückgang der Finanzierung eine Verschiebung von Prioritäten aus: Die arabischen Golfmonarchien seien größtenteils zur Normalisierung ihrer Beziehungen mit Israel bereit oder hätten diesen Prozess schon eingeleitet. "Palästina und das Schicksal der Flüchtlinge haben deshalb als anti-israelischer Mobilisierungsfaktor ausgedient."

Zu den Finanzproblemen erschwerend hinzu kommt die dauerhafte Kritik an UNRWA, vor allem, aber keineswegs ausschließlich in Israel. So begründete die Trump-Administration ihre Einstellung der Zahlungen 2018 damit, dass das Geschäftsmodell der UNRWA "hoffnungslos fehlerhaft" sei. Erst im April 2021 hat die Biden-Regierung die Zahlungen an das Hilfswerk wieder aufgenommen.

Sitz des Palästinenser-Hilfswerks in Gaza-StadtBild: Mohammed Abed/AFP/Getty Images

Im vergangenen Jahr hätte beinahe auch das Europäische Parlament - sonst bekannt als langjähriger regelmäßiger Unterstützer von UNRWA - einen Teil der Mittel blockiert. Im Spätsommer 2021 hatte dessen Haushaltsausschuss vorgeschlagen, rund sieben Prozent der jährlichen EU-Mittel für die Palästinenser vorerst einzubehalten. Diese hätten so lange zurückgestellt werden sollen, wie nicht ausgeschlossen werden könne, dass in palästinensischen oder anderen arabischen Schulbüchern, die UNRWA vor Ort verwendet, gegen Israel gehetzt werde. Die Kritik der Europäer war zwar deutlich formuliert. Doch in einer Abstimmung des EU-Parlaments fand sich keine Mehrheit für den Vorschlag. Die Abgeordneten berücksichtigten damit, dass UNRWA vor Ort und gerade auch in vielen Lagern mit komplizierten politischen Verhältnissen konfrontiert ist, die nicht immer einfach umgangen werden können.

Starke Kritik aus Israel

Die stärkste Kritik an UNRWA kommt jedoch naturgemäß aus Israel. Nicht nur eine zumindest erkennbare Duldung anti-israelischer Stimmungsmache in palästinensischen oder anderen arabischen Schulbüchern wird UNRWA insbesondere von rechten und Mitte-Rechts-Kräften vorgeworfen. Zu den Vorwürfen gehört auch, dass UNRWA in Flüchtlingslagern tätig sei, in denen teilweise auch Terrorgruppen agierten, und es so faktisch hinnähme, dass palästinensische Schulkinder als menschliche Schutzschilde für militärische Aktivitäten der Hamas wie geheime Waffenlager missbraucht würden - ein Vorwurf, den UNRWA in einer Stellungnahme gegenüber der DW "auf das Entschiedenste" zurückweist.

Im Gegenteil biete das Hilfswerk gerade Kindern bei bewaffneten Konflikten stets Schutzräume in seinen Schulen, betont UNRWA. Allein beim Gaza-Krieg 2014 habe man insgesamt mehr als 300.000 Menschen Schutz geboten, betont UNRWA. UNRWA legt zudem Wert auf die Feststellung, dass es selbst keine Flüchtlingscamps betreibe, sondern dort in Kooperation mit den verantwortlichen Gastländern oder Autoritäten Dienstleistungen anbiete.

Kritisiert wird in Israel zudem immer wieder, dass sich unter der Ägide des Hilfswerks die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge immer weiter erhöht habe. Der derzeitige Premier Naftali Bennett hat sich hier zuletzt zwar zurückgehalten. Aber israelische Regierungen hatten dies in der Vergangenheit immer wieder angeprangert, besonders scharf der frühere Premier Benjamin Netanjahu, der es 2018 mit einem Satz auf den Punkt brachte: "UNRWA ist eine Organisation, die das palästinensische Flüchtlingsproblem fortschreibt und das Narrativ des sogenannten Rückkehrrechts fortsetzt, dessen Ziel die Eliminierung Israels ist."

 

Palästinensische Schulkinder in Gaza-StadtBild: Ismael Mohamad/UPI Photo/Newscom/picture alliance

Dass der Flüchtlingsstatus im UNRWA-Rahmen faktisch vererbt wird, finden andere Beobachter, wie etwa die deutsche Politologin Asseburg, allerdings durchaus verständlich: UNWRA wahre auf diese Weise das Prinzip der Einheit der Familie von Flüchtlingen, so Asseburg. Auch UNWRA selbst verweist darauf, dass dies internationaler Standard sei. Zudem entscheide nicht UNRWA selbst, wen es als Flüchtling anerkenne, ergänzt Asseburg: "UNRWA bekommt das Mandat von der UN-Generalversammlung." Vor allem aber federe UNRWA weiterhin die aus dem ungelösten Nahost-Konflikt resultierenden Notlagen ab, betont Asseburg. "UNRWA hat aber kein Mandat, um das Problem zu lösen."

Kommission soll Vorwürfe prüfen

Der deutsche Historiker Daniel Mahla, Koordinator des Zentrums für Israel-Studien an der Universität München, macht darauf aufmerksam, dass nicht nur UNRWA, sondern die gesamten UN in Israel teilweise sehr kritisch oder zumindest ambivalent gesehen würden: "Zum einen sind sich die Israelis bewusst, dass sich die Existenz ihres Staates zu großen Teilen der UN-Resolution von 1947 verdankt. Andererseits wird Israel aber spätestens seit den 1970er Jahren wie weltweit wohl kein anderes Land von vielen UN-Mitgliedstaaten kritisiert." Mitunter würden die UN deshalb von manchen fast wie eine gegen Israel gerichtete Organisation wahrgenommen.

Immerhin den Vorwurf der geduldeten anti-israelischen Stimmungsmache in palästinensischen Schulbüchern will die UNRWA laut eigenem Bekunden aufarbeiten: Eine Expertenkommission solle künftig problematische Lehrinhalte an Schulen für palästinensische Kinder verhindern, versprach UNRWA-Chef Lazzarini Mitte April in einem Gespräch mit der deutschen Tageszeitung "Die Welt": "Wir müssen eine Grenze ziehen, und das ist die Glorifizierung von Terrorismus und Tolerierung von Rassismus."

Von Feinden zu Freunden

42:31

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Dieser Artikel wurde am 17.06.2022 teilweise aktualisiert und erneuert. Klargestellt wurde u.a., dass UNRWA nach eigenen Angaben keine Partnerschaft mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR anstrebt und dass vor Ort erschienene palästinensische oder arabische Schulbücher zwar seitens UNRWA im Schulunterricht eingesetzt, nicht jedoch durch UNRWA gefördert würden. 

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika