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PolitikEuropa

"Die Kampagne gegen mich ist erschreckend"

30. Juli 2020

Im DW-Interview spricht Szabolcs Dull, der entlassene Chefredakteur des meistgelesenen ungarischen Portals, Index, über die Hintergründe seines Rauswurfs und über die Hetzkampagne regierungsnaher Medien gegen ihn.

Szabolcs Dull - ehem. Chefredakteur des ungarischen Online-Portals Index
Szabolcs Dull, der entlassene Chefredakteur des ungarischen Online-Portals IndexBild: István Huszti

Deutsche Welle: Herr Dull, Sie sind vergangene Woche als Chefredakteur von Index, dem größten und meistgelesenen ungarischen Medium, entlassen worden. War das eine Überraschung für Sie?

Szabolcs Dull: Die Form der Kündigung war auf alle Fälle eine Überraschung, denn der Geschäftsführer der Index-Stiftung, also mein Chef László Bodolai, lud mich an einen Ort außerhalb der Redaktion ein, um, wie er sagte, eine Geschäftsangelegenheit zu besprechen. Vor Ort überreichte er mir blitzartig meine Kündigung. Keine Überraschung ist der Prozess gewesen, wie es dazu kam, denn in den vergangenen Wochen gab es ziemlich viel Reiberei, weil ich öffentlich die Unabhängigkeit der Redaktion verteidigt habe, die unter Beschuss stand.

Regierungsnahe Geschäftsleute sind seit einigen Jahren Miteigentümer bei Index. War es daher absehbar, dass etwas derartiges passieren würde?

Tatsächlich sind in den letzten Jahren Oligarchen, regierungsnahe Geschäftsleute erschienen, die sich bei Indamedia, der Werbefirma von Index, eingekauft haben. Deshalb war die Redaktion unruhig. Also haben wir vor gut zwei Jahren zwei ganz klare Bedingungen aufgestellt: Die inhaltliche Unabhängigkeit der Redaktion müsse gewahrt bleiben und es dürfe keinerlei außerredaktionelle Einmischung in ihre Zusammensetzung geben. In den vergangenen Wochen gab es Versuche, die letztere Bedingung zu missachten, das war der so genannte Auslagerungsplan, laut dem der größte Teil der Redaktion auf externe Firmen verteilt werden sollte. Das wäre unser Ende gewesen.

"Das war die rote Linie"

Sie haben, als Ihnen der Auslagerungsplan bekannt wurde, das so genannte Unabhängigkeits-Barometer von Index umgestellt, von unabhängig auf gefährdet. War das berechtigt und klug?

Es war die Befindlichkeit der Redaktion, die über den Stand des Barometers entschied. Wir haben es so empfunden, dass wir in Gefahr sind. Deshalb haben wir das Barometer von Grün auf Gelb gestellt, wir wollten damit auch ein starkes öffentliches Signal senden. Vorher habe ich dem Geschäftsführer der Stiftung mehrfach gesagt, dass wir mit dem Auslagerungsplan nicht einverstanden sind.

Fast die gesamte Index-Redaktion ist nach der Entlassung ihres Chefredakteurs zurückgetretenBild: Bődey János/Index

War es ein richtiger Schritt, dass fast die gesamte Redaktion kündigte, nachdem Sie entlassen wurden und der Geschäftsführer der Forderung der Redaktion, Sie wieder einzustrellen, nicht nachkam?

Als ich die Redaktion von meiner Kündigung informierte, habe ich sie gebeten, Index als Symbol der ungarischen Pressefreiheit zu verteidigen und weiterzuarbeiten. Allerdings sah die Redaktion offenbar keine Möglichkeit mehr dazu. Mich hat die Einigkeit der Redaktion in dieser Sache überrascht und natürlich auch berührt.

Ein Redakteur schrieb dazu hinterher, man habe die Wahl zwischen stillem Ausbluten und einem würdigem Tod gehabt. Wie kommentieren Sie das?

Das ist gut formuliert. Ich denke, die Redaktion hat es so empfunden, dass künftig immer mehr kleine Kompromisse geschlossen und Abstriche gemacht werden müssen. Sie hätte auch schlucken müssen, dass man den Chefredakteur entlassen hat, der für ihre Unabhängigkeit seine Stimme erhoben hat. Das wollten die meisten offenbar nicht. Das war ihre rote Linie.

Die Redaktion schrieb in einer Stellungnahme, Index in seiner bisherigen Form existiere nicht mehr. Gibt es noch eine Chance, das Portal zu retten?

Eine Seite namens Index wird es weiterhin geben. Aber das, was wir bisher vertreten haben, unsere Werte, unsere Unabhängigkeit, unsere Freiheit, das ist ganz sicher zu Ende.

Die ungarische Regierung bestreitet, irgendetwas mit den Vorgängen um Index zu tun zu haben. Ist das glaubwürdig?

Ich sehe es nicht als meine Rolle, das zu analysieren. Fest steht: Nachdem ich entlassen wurde, begannen die regierungsnahen Medien eine äußerst brutale Herabwürdigungskampagne gegen mich. Nichts davon stimmt.

"Die Deckenhöhe hat sich verringert"

Sie werden beschuldigt, Index mit Hilfe linker Politiker zerschlagen zu haben.

Ich habe das bei einer anderen Gelegenheit mit den Worten kommentiert: Nicht ich bin der Henker, sondern ich bin das Opfer, das geköpft wurde. Immerhin bin ich entlassen worden und habe nicht nur meinen Job, sondern auch einen bedeutenden Teil meines Lebens verloren. Es gibt in dieser Kampagne einen lächerlichen und einen erschreckenden Teil. Der lächerliche Teil ist, dass ich mit Oppositionspolitikern vereinbart haben soll, Index zu zerstören. Der erschreckende Teil der Kampagne ist, dass das regierungsnahe Portal Origo eine Anrufliste meines Telefons veröffentlicht hat und sich darauf in seiner Kampagne beruft. Es ist einfach so: Ich habe sehr viele Jahre als politischer Journalist gearbeitet, ich kenne praktisch alle Politiker Ungarns, die meisten haben meine Telefonnummer und rufen mich immer wieder an. Ich habe absolut nichts zu verheimlichen, und jeder, der dazu das Recht hat, kann meine Anrufliste einsehen. Aber dass sie widerrechtlich in einem regierungsnahen Portal erscheint und für eine Kampagne benutzt wird, ist erschreckend.

Protest in Budapest gegen die politische Einflussnahme auf IndexBild: DW/F. Schlagwein

Was bedeutete Index für Ungarn?

In den vergangenen Wochen baten wir unsere Leser, uns zu schreiben, was Index für sie bedeutet, und sehr viele schrieben, Index sei die Seite, die sie morgens als erste aufrufen würden, um sich zu informieren. Viele schrieben auch, dass sie, wenn etwas Wichtiges in der Welt geschehen würde, als erstes Index aufschlagen würden, um Hintergründe zu erfahren.

Ungarische Kommentatoren haben Index mal als Ikone, mal als Institution und als Lebensform bezeichnet.

Ja, das mag so sein. Wir in der Redaktion haben oft unsere besondere Rolle gespürt. Wenn Leser uns ganz allgemein gefragt haben, was und warum es gerade geschieht. Ein Beispiel ist die Coronakrise. Die Pressekonferenzen des ungarischen Corona-Krisenstabs haben sich auf unserer Seite zehnmal so viele Leute angesehen wie auf der Webseite der Regierung, dieselben Bilder, derselbe Live-Stream, nur eben übertragen von uns, ich denke, das spricht für sich.

Stellen Sie das Unabhängigkeits-Barometer jetzt auf Rot für "nicht mehr unabhängig"?

Das Barometer hat keinen Sinn mehr, fast die ganze Redaktion hat gekündigt. Ob wir es nun auf Rot stellen oder nicht, ist egal.

Was sind Ihre weiteren Pläne? Wird es mit den ehemaligen Index-Mitarbeitern ein neues Projekt geben?

Ich persönlich habe vertraglich ein sechsmonatiges Verbot, in Medien zu arbeiten. Ich führe jetzt mein Jurastudium weiter. Aber ich hoffe sehr, dass meine Kollegen die Werte, die wir bei Index vertreten haben, in einem journalistischen Projekt weiterhin aufrecht erhalten.

Gibt es noch Pressefreiheit in Ungarn?

Das ist eine Frage, die man nur sehr schwer mit Ja oder Nein beantworten kann. Ich sage dazu immer, man müsse sich die Pressefreiheit wie ein Zimmer vorstellen, dessen Deckenhöhe schwankt. Wenn sie sich verringert, können einige Leute nicht mehr aufrecht stehen. Jetzt hat sich die Deckenhöhe verringert.

Szabolcs Dull, 36, studierte Französisch und Kommunikation an der Budapester Eötvös-Lorand-Wissenschaftsuniversität. Er arbeitete als Journalist unter anderem beim öffentlich-rechtlichen Sender Kossuth Rádió sowie bei den Nachrichtenportalen Origo und Index. Seit 2019 war er Chefredakteur von Index. Derzeit führt Dull in Budapest sein Jurastudium weiter.