Exoskelette: Wie von Zauberhand
7. April 202330 Autominuten südwestlich von Zürich: Am Waldrand des beschaulichen Städtchens Affoltern befindet sich die Kinder-Reha Schweiz. Ein modernes Betongebäude. Draußen auf dem Spielplatz verbringen Kinder mit ihren Eltern den Nachmittag. Drinnen arbeiten Professor Hubertus van Hedel und sein Team an einer großen technischen Entwicklung: einem Hand-Exoskelett.
Das sind "Systeme, die der menschlichen Körperform folgen", erklärt van Hedel "und die - wie bei uns - von außen mit der Hand verbunden sind". Dieses "äußerliche Skelett" sorge dafür, dass bestimmte Bewegungen mit der menschlichen Hand durchgeführt werden können.
Alles andere als futuristisch
Van Hedels Forschungsteam hat ein erstes, voll motorisiertes und tragbares Hand-Exoskelett entwickelt: Flaschen aufdrehen, Brot schneiden, Knöpfe vom Boden aufheben und Spielkarten halten mittels Robotik. Gedacht ist das Gerät speziell für Kinder und Jugendliche mit einer angeborenen oder erworbenen Schädigung des Gehirns - mit der Folge, dass sie ihre Hände nur eingeschränkt bewegen können.
Pexo - so der Name der Apparatur - wirkt alles andere als futuristisch: Jeder Finger besteht an der Oberseite aus drei dünnen Blattfedern, die wie Sehnen funktionieren und über Kabel mit einem Motor verbunden sind. Aktiviert wird das Gerät mittels Sprachsteuerung oder mit einem blauen Button. Dann üben die beweglichen Blattfedern einen leichten Druck auf die menschlichen Finger aus und die biologische Hand der Patienten schließt oder öffnet sich. In einem etwa zwei Kilogramm schweren Rückenmodul sind Elektronik, Motoren und Batterie untergebracht.
Pexo, das Krokodil
Das knallgrüne Handmodul gleicht einem Krokodil. Denn das Design soll kindlichen Bedürfnissen entgegenkommen, wie Jan Dittli erklärt, Ingenieur an der ETH Zürich: "Wir haben verschiedene Größen entwickelt, um Kindern zwischen fünf und 18 Jahren eine passende Größe anzubieten."
Aber das Exoskelett hat noch mechanischen Grenzen: Finger können nicht einzeln angesteuert werden. Lediglich der Daumen und die restlichen vier Finger zusammen lassen sich separat aktivieren, um die Hand zu öffnen oder zu schließen. Klavierspielen: Fehlanzeige. Aber nur so ist ingenieurtechnisch das geringe Gewicht des Exoskeletts möglich. Das Handmodul wiegt etwa 120 Gramm, das ist weniger als ein Smartphone.
Anfänge der Forschung
Auf Sensortechnik oder gar Steuerung über Verbindungen zu Nerven oder zum Gehirn hat van Hedels Team bewusst verzichtet. Das sei zwar medizinisch spannend, die Forschung stecke da aber noch in den Kinderschuhen. Bislang sind therapeutische Robotergeräte sehr sperrig, schwer und groß. Mit Pexo können Kinder und Jugendliche auf einfache Weise Bewegungen mit Alltagsgegenständen üben und Dinge heben, die bis zu einem halben Kilogramm wiegen. Die große Tafel Schokolade ist kein Problem, die volle Milchtüte schon grenzwertig.
Robotisch betriebene Exoskelette wurden Anfang des Jahrtausends zuerst im Militär und später für therapeutische Zwecke entwickelt. Gangroboter für Schlaganfallpatienten oder bei Querschnittslähmungen existieren bereits - etwa zum Stehen, Gehen oder Greifen.
Power Suit für die Industrie
Inzwischen interessieren sich auch Handwerksbetriebe, die Automobilbranche, Logistikdienstleister und Träger von Pflegeeinrichtungen für Exoskelette. Zum Beispiel für tragbare Roboter, die das Heben übernehmen und dabei die Wirbelsäule der Mitarbeiter schonen. Dabei werden Kräfte, die auf Rückgrat, Schultern und Nacken wirken, vom Exoskelett übernommen und umgeleitet. Die Anwendungsgebiete? Überall dort, wo körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten geleistet werden. Etwa wenn es gilt, täglich mehrere Tonnen Ersatzteile, Karosserien, Koffer, Zementsäcke zu wuchten oder bettlägerige Patienten in Pflegeeinrichtungen zu heben. Dieses Potential hat man auch beim deutschen Prothesenhersteller Ottobock erkannt. Dort sieht man das Segment Exoskelette langfristig als größeren Markt als die Prothetik, sagte Ottobock-Chef Oliver Jakobi unlängst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Schon in diesem Jahr rechnet er in diesem Segment mit einer Verdoppelung des Umsatzes.
Exoskelette lassen sich in zwei Typen einteilen: Passive Modelle verfügen weder über Motoren noch Batterien. Sie leiten Belastungen über Federn und Seilzüge auf andere Körperpartien des Trägers um.
Anders aktive Exoskelette, wie die der Augsburger Firma German Bionic. Das Unternehmen stellt unterschiedliche Kraftanzüge her. Diese verfügen über kräfteverstärkende Motoren und übernehmen das Heben. Zum Beispiel der Cray X: ein sogenanntes Power Suit Exoskelett, das die körperliche Leistungsfähigkeit von Arbeitern verbessern soll und speziell für den Einsatz in der Fertigungsindustrie beim Heben und Absenken von Lasten auf Paletten oder Regalen entwickelt wurde.
Das Exoskelett hilft, die Belastungen des Oberkörpers reduzieren und somit Muskelermüdung und Verletzungen vorzubeugen. Es funktioniert ähnlich wie das Hand-Exoskelett der Kinder-Reha Schweiz, wird über Beinschlaufen und am Oberkörper über eine Weste angeschnallt.
Riesiger Markt
Cray X ist modular aufgebaut, das heißt: Das Exoskelett ist je nach Einsatzbereich und Bedürfnissen des Trägers individuell konfigurierbar. Es kann auch mit verschiedenen Sensoren und Überwachungssystemen ausgestattet werden, um den Träger und seine Arbeit zu überwachen und Daten zur Leistungsfähigkeit und Belastung zu sammeln.
German Bionic ist nicht das einzige Unternehmen, das mit Exoskeletten experimentiert und solche Geräte anbietet. Zahlreiche Startups tummeln sich auf dem Feld. Laut der indischen Analysefirma MarketsandMarkets wird der globale Markt für Exoskelette stetig wachsen und bis 2025 einen Wert von 6,8 Milliarden US-Dollar erreichen. Andere Marktforschungsinstitute schätzen den Umsatz für Industrie-Exoskelette auf 20 Milliarden US-Dollar bis 2030, 2016 lag er noch bei 96 Millionen US-Dollar.
Gesundheitsvorbeugung und Risikoabwägung
Das Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) forscht zum Einsatz von Exoskeletten in der Logistik. Allerdings haben dort bisher keine Laborstudien stattgefunden, Erkenntnisse (zu finden hier) wurden durch Befragungen von Beschäftigten in Logistik-Unternehmen gewonnen. Dadurch ist es bislang nicht möglich, Angaben zur möglichen Effizienz beim Einsatz von Exoskeletten zu treffen. Auch Aussagen zu möglichen Erkrankungen oder zum Verletzungsrisiko können die Forschenden noch nicht machen.
Allerdings gab es auch Kritikpunkte an der Verwendung von Exoskeletten in der Industrie. So wurde zum Beispiel bemängelt, dass die Exoskelette noch recht schwer und sperrig sind und dadurch die Beweglichkeit der Mitarbeiter einschränken können. Auch sind einige Exoskelette noch recht teuer, was den Einsatz in kleineren Unternehmen erschwert. Und es fehlen Langzeitstudien, um die Folgen im realen industriellen Einsatz abzuschätzen. Dazu gehören mögliche Nebeneffekte wie Muskelabbau bei aktiven Exoskeletten oder die erhöhte Belastung des Herz-Kreislaufsystems bei System für die Über-Kopf-Arbeit.
Zurück in die Kinder-Reha Schweiz. Wanda [richtiger Name ist der Redaktion bekannt] kommt in den Behandlungsraum; sie gehört zu den rund 240 Kindern und Jugendlichen pro Jahr, die mehrere Wochen oder wie die 14-Jährige sogar Monate in der Reha verbringen. Der Grund: Sie kämpfen mit den Folgen etwa von Rückenmarks- oder Hirnverletzungen nach Schlaganfällen.
Mühevolle Therapie
Auch Wanda hatte vor einem Jahr einen Schlaganfall, konnte linksseitig Arm, Bein und Hand nicht mehr richtig bewegen; dazu kamen immer wieder Sprachstörungen. Durch intensive Reha hat sich das geändert. Wanda spricht wieder flüssig, aber noch immer will sich die Hand nicht so richtig bewegen wie früher.
Jetzt soll sie mit dem Hand-Exoskelett kleine Bauklötze aus einem Holzkasten greifen und über eine Trennwand hinweg in einen zweiten Kasten legen. Was anderen Kindern leicht von der Hand geht, ist für Wanda mühevoll.
Sie gibt über die Sprachsteuerung den Befehl, die Hand zu schließen, plötzlich beginnen die Motoren des Exoskeletts leise zu surren. Ihre gelähmten Finger krümmen sich, sie greift das kleine Holzklötzchen und legt es in dem gegenüberliegenden Kasten ab.
Star Wars-Fantasie
Werden Hand-Exoskelette irgendwann an die Funktionen echter Hände herankommen? Van Hedels Antwort: Nein, die menschliche Hand sei zu filigran, zu kompliziert, als dass man ihre Funktion künstlich ersetzen könnte so wie die Roboterhand von Luke Skywalker. Die bleibe eine Star Wars-Fantasie der Traumfabrik Hollywood.
Trotzdem könne ein Exoskelett für manche Kinder mit Hirnschädigungen hilfreich sein, resümiert der Forschungsleiter. "Kommerziell ist das keine riesige Zielgruppe" und ergänzt: "Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich gerade darin, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Kinder sind unsere Zukunft!"
Der Artikel wurde am 17.07.2023 um eine Richtigstellung der Aussagen des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logistik korrigiert.