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Gutachten

Heiner Kiesel29. April 2015

Europa muss enger zusammenarbeiten, um die Migrationsströme zu bewältigen, fordert ein Expertengremium. Und sagt, warum wir uns über den Zuzug freuen sollten.

Flüchtlinge in Kyprinos Griechenland Foto: dpa
Zwischenstation: Flüchtlinge in Kyprinos, GriechenlandBild: picture-alliance/dpa/N. Arvanitidis

So wie es ist, kann es mit der Behandlung von Flüchtlingen nicht mehr weitergehen. Das ist der dringende Appell der Mitglieder des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) an die deutsche und europäische Politik. Besonders das als "Dublin II" bekannte System der Verwaltung von Flüchtlingsströmen steht bei den Fachleuten in der Kritik. "Das ist gescheitert", stellt die Vorsitzende des SVR, Christine Langenfeld, fest. Eigentlich sollen Flüchtlinge in dem Land bleiben, das sie als erstes der EU betreten. Die Realität sieht anders aus. "Von den 45.000 Syrern, die in Italien angekommen sind, sind nur ein paar Hundert geblieben, den Rest haben die Italiener durchgewunken", beschreibt Langenfeld. Weil "Dublin II" die Erstaufnahmeländer überfordere und nicht in Einklang mit den Zielen der Flüchtlinge stehe, sei es besser, von vorneherein mehr Freizügigkeit im System vorzusehen.

Die Kritik des SVR soll aber keine Abkehr vom bestehenden Verfahren nach sich ziehen. In ihrem Jahresgutachten mit dem Titel "Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich" schlagen sie vor: In Zukunft sollen die Flüchtlinge ihren Wohnort in der EU frei wählen können - nachdem ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Damit das in den Ersteinreiseländern geschehen kann, müssten die Partnerstaaten logistische und finanzielle Hilfen leisten. Im Gegenzug müssten Länder wie Griechenland, Spanien, Malta oder Italien konsequent mitarbeiten, Anträge bearbeiten und für eine angemessene Unterbringung sorgen. Es hätten alle Vorteile davon: "Die Länder des Nordens hätten nicht mehr mit Anträgen und Abschiebungen zu tun, für die sie eigentlich nicht zuständig sind und die Länder des Südens bleiben nicht mit den großen Flüchtlingsgruppen allein", wirbt Langenfeld für ihren Vorschlag.

Christine Langenfeld vom Sachverständigenrat Integration und MigrationBild: DW/H. Kiesel

Konsequente Nothilfe und kollektives Asyl

Als "nicht hinnehmbar" bezeichnen die Mitglieder des SVR, was derzeit an Unglücken auf den Fluchtwegen geschieht. Europa müsse hier seine humanitäre Verantwortung wahrnehmen und die Seenotrettung intensivieren. Die Wissenschaftler raten dazu, das EU-Instrument der "Richtlinie zur vorübergehenden Aufnahme von Flüchtlingen" zu nutzen. Dabei geht es um ein kollektives Aufnahmeverfahren, das jedoch bisher daran gescheitert sei, dass sich eine Reihe von Mitgliedsstaaten nicht an der Aufnahme der Flüchtlinge beteiligt. Der SVR hofft hier auf ein besseres Zusammenspiel in der EU. "Das ist ein Prüfstein für ihre Handlungsfähigkeit", sagt Langenfeld.

Gefährlicher Weg nach Europa: Landung auf RhodosBild: REUTERS/Argiris Mantikos/Eurokinissi

Ein Problem bei der Behandlung der Flüchtlinge stellen die unterschiedlichen Fluchtursachen dar. Asyl gibt es nur bei politischer Verfolgung oder der Bedrohung von Leib und Leben. Vielen aber, die aus dem Süden nach Europa wollen, geht es um eine ökonomische Perspektive. "Für diese Fälle haben wir die am wenigsten schlüssigen Antworten", bekennt Heinz Faßmann, er lehrt Angewandte Geographie und Raumordnung an der Universität Wien. Hier könne es nur langfristige Maßnahmen geben. "Aber von der Bekämpfung der Fluchtursachen höre ich schon viele Jahre und nie ist ernsthaft etwas geschehen!", ärgert sich Faßmann über die Entscheidungsträger in der Politik. Der Wissenschaftler verweist jedoch auch auf aussichtsreiche Projekte, die bereits in der Diskussion seien, wie Mobilitätspartnerschaften, bei denen rückkehrwillige Migranten bei einem Neuanfang im Herkunftsland unterstützt werden. Langenfeld wirbt um "Empathie" und "Geduld".

Stärkere Zuwanderung demographisch notwendig

Vehement plädiert der Sachverständigenrat für mehr Einwanderer in Deutschland. "Seien sie sich im Klaren darüber, dass die Migranten ihre Rente bezahlen werden", argumentiert Wilfried Bos, Professor für Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Durch die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsentwicklung sehen sich Bos und seine Kollegen bestätigt. Bis zum Jahr 2060 soll die Bevölkerung in Deutschland von derzeit 80,8 Millionen auf 73,1 Millionen schrumpfen - und dabei gehen die Statistiker noch von einem überdurchschnittlichen Zuzug aus. Wird er schwächer, leben in Deutschland in 45 Jahren vielleicht nur noch 67,6 Millionen. Ein Drittel davon wird im Rentenalter sein, aktuell ist es ein Fünftel.

Deutschland wird leerer und seine Bewohner immer älter - 2060 sollen nur noch 35 Millionen erwerbstätig seinBild: picture-alliance/dpa

Den Mitgliedern des Sachverständigenrates fehlt das passende gesellschaftliche Klima für die geforderte Zuwanderung, die Willkommenskultur. "Die Angst vor den Migranten hindert uns, Chancen zu sehen", so Bos. Generell stellt das Gutachten des SVR der deutschen Migrations-Politik ein gutes Zeugnis aus. Die Entwicklung zum Einwanderungsland sei bereits weit fortgeschritten. "Wir sind besser als wir glauben", sagte die SVR-Vorsitzende Langenfeld und attestierte ein "fortschrittliches migrationspolitisches Instrumentarium". Besonders die Verfahren, mit denen Akademiker und Fachkräfte angeworben werden, finden Zustimmung. Sie müssten jedoch noch besser im Ausland bekannt gemacht werden, so Langenfeld.

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