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"Mittelstand wird deutlich unterschätzt"

Klaus Ulrich
23. April 2019

Eine nationale Industriestrategie sollte viel deutlicher die Interessen der kleineren und mittelgroßen Unternehmen berücksichtigen als bisher geplant, sagt die Ökonomin Friederike Welter im DW-Gespräch.

Prof. Dr. Friederike Welter
Friederike Welter, Präsidentin des Instituts für MittelstandsforschungBild: Ifm

Deutsche Welle: Wenn von der deutschen Wirtschaft die Rede ist, fallen schnell die Namen großer Konzerne wie Siemens, Bayer, Thyssenkrupp oder VW. Für die vielen mittelständischen Unternehmen bleibt dann kaum noch Zeit. Wie sehr ärgert Sie das?

Friederike Welter: Das ärgert mich schon ziemlich. Vielleicht auch deswegen, weil der Mittelstand und die Mittelstandsforschung seit fast 30 Jahren meine Passion sind und nicht nur mein Beruf. Ein Teil der mittelständischen Unternehmen ist allerdings auch unbekannt. Wir kennen einige aus dem täglichen Leben, wenn wir beispielsweise  zum Bäcker gehen oder zum Friseur um die Ecke. Aber was den industriellen Mittelstand angeht, sind die meisten Namen unbekannt.

Jetzt kommt der Bundeswirtschaftsminister und sagt: "Je größer ein Unternehmen ist, desto mehr staatliche Zuwendung verdient es." Diese Meinung vertritt - verkürzt gesagt - Peter Altmaier in seiner nationalen Industriestrategie. Darüber ist eine heftige Diskussion entbrannt. Welcher Meinung sind Sie?

Ich bin der Meinung, dass die nationale Industriestrategie die Rolle und die Bedeutung des Mittelstandes deutlich unterschätzt. Das hat mich schon überrascht, als ich den Entwurf gelesen und auch die Reaktionen gesehen habe. Mittlerweile gibt es mehr und mehr Stimmen, die sagen, vergesst aber bitte nicht den Mittelstand. Zu Recht, denn mit der bisherigen Fassung der Nationalen Industriestrategie wird ein Bild vermittelt: groß gleich super. Und das sehe ich ein bisschen anders.

Europäische Champions wie Airbus sollen laut Minister Altmaier Vorbilder sein bei der Förderung von Unternehmen. Den Hidden Champions, das sind die vielen mittelständischen Weltmarktführer aus Deutschland, traut der er anscheinend nicht allzu viel zu. Haben Sie dafür eine Erklärung oder zumindest eine Vermutung?

Ich habe zwei Vermutungen. Schon der Name sagt es ja: Hidden Champions, das sind die 'versteckten Champions', also diejenigen, die in unserem Bewusstsein und auch in den Medien kaum auftauchen. Warum sieht man sie nicht? Viele von diesen Hidden Champions sind im sogenannten B2B-Geschäft unterwegs, also im Business to Business Bereich. Das heißt, sie sind zwar Weltmarkt- und auch Technologieführer, aber in Branchen, die uns im täglichen Leben nicht berühren.

Wir kennen Google, wir kennen Apple, wir kennen Amazon, weil die meisten von uns Bücher online kaufen, weil man ein iPhone hat, weil man im Netz mit Google sucht. Das sind direkte Anwendungen im täglichen Leben. Bei den Hidden Champions ist das in der Regel nicht so.

Meine zweite Vermutung: Für die Großunternehmen ist die Lobby wesentlich größer und lauter als für die kleineren.

Dabei sind Sie aber auch der Ansicht, dass Größe im Unternehmensbereich wichtig ist, nur in einem anderen Sinne. Bitte erläutern Sie, wie Sie das meinen.

Für mich ist Größe nicht gleichbedeutend mit der Anzahl der Beschäftigten oder mit Milliardenumsätzen. Für mich bedeutet Größe, welchen Markt ein Unternehmen bedient und ob es dabei tatsächlich eine Markt- oder eine Technologieführerschaft hat. Das können durchaus auch kleine Unternehmen sein.

Als ich im Entwurf der Industriestrategie gelesen habe, dass wir jetzt große europäische Champions oder auch deutsche Champions kreieren sollten, hatte ich dieses Bild vor Augen: Die gibt es aber doch schon! Es gibt sie halt im Kleinen und im Verborgenen.

Ich fühlte mich so ein Stück weit zurückversetzt in die 1970er Jahre. Damals glaubte man, die Kleinen sind deswegen klein, weil sie noch nicht groß werden konnten. Heute wissen wir, die Kleinen sind klein, dennoch haben sie ihre eigenen Stärken.

Hochpräzise Antriebe in allen Größen: Die Wittenstein AG ist damit Weltmarktführer. Bild: dapd

Ich zitiere die amerikanische Zeitschrift Businessweek, die der deutschen Wirtschaft in ihrer aktuellen europäischen Ausgabe eine ausführliche Titelgeschichte widmet. Das Gesamturteil ist vernichtend. Der deutschen Wirtschaft insgesamt wird kein gutes Zeugnis ausgestellt. Als Lichtblick bezeichnet wird lediglich der "Mighty Mittelstand", also der "Mächtige Mittelstand" in Deutschland. Können Sie dieses Urteil nachvollziehen?

Das kann ich gut nachvollziehen, wobei man nicht vergessen darf, dass unsere Wirtschaft zu einem ganz großen Teil aus dem Mittelstand besteht. Aber wenn wir beispielsweise an den Dieselbetrug oder andere Skandale denken: Überlegen Sie mal, welche Unternehmen dahinter stecken. Es sind die Großunternehmen. Groß bedeutet unter Umständen auch, dass die Governance im Unternehmen nicht mehr funktioniert, dass die linke Hand nicht mehr weiß, was die rechte tut.

Das gibt es im Mittelstand zwar auch, aber nie so ausgeprägt wie in einem Großunternehmen. Kleine Unternehmen haben flachere Hierarchien und sind deshalb transparenter.

Dabei darf man nicht vergessen, dass der Mittelstand viel mehr Menschen beschäftigt. Können Sie Zahlen nennen?

Wir haben so ungefähr 44 Millionen Beschäftigte in Deutschland. 31 Millionen davon arbeiten in mittelständischen Unternehmen. Unter mittelständischen Unternehmen verstehen wir in erster Linie Betriebe mit bis zu 500 Beschäftigten.

Aber wir haben noch ein anderes Kriterium: Ein mittelständisches Unternehmen zeichnet sich auch dadurch aus, dass es Eigentümer geführt ist. Das kann eine Familie sein, es können aber auch Partner sein. Es gibt viele größere Familienunternehmen, die über die genannten Beschäftigtenzahlen hinausgehen, die sich aber noch als Mittelstand fühlen. Denn sie haben das Gefühl, das Mittelstand etwas Besonderes ist.

Insgesamt generiert der Mittelstand ungefähr 35 Prozent des gesamten Umsatzes in Deutschland und 53 Prozent der Netto-Wertschöpfung aller Unternehmen. Im Mittelstand arbeiten knapp 60 Prozent aller mit Sozialversicherungsnummer gemeldeten Mitarbeiter und sogar 82 Prozent aller Auszubildenden. Ich würde mal sagen, das sind tolle Zahlen.

Mittelstand in Aktion: Montagelinie beim Landmaschinenhersteller Claas in Harsewinkel (Nordrhein-Westfalen) Bild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

Wie sollte Ihrer Meinung nach eine gemeinsame europäische Industriestrategie aussehen und wie müsste eine deutsche Industriestrategie ausgestaltet sein, die einer europäischen vorausgeht.

Vielleicht fangen wir mit dem zweiten Teil der Frage an. Es gibt zunehmend mehr Dienstleistungen, der Industrie-Anteil nimmt langsam, aber stetig ab. Landwirtschaft spielt sowieso eine vernachlässigbare Rolle. Das heißt, wir ändern uns zu einer mehr dienstleistungsbetriebenen Wirtschaft. Und auch innerhalb der Industrie verändern sich die Dinge.

Die Industrie ist heutzutage viel mehr wissensgetrieben. Da zählt nicht mehr derjenige, der im Blaumann am Förderband steht oder Dinge zusammenschraubt, sondern jemand, der am Förderband steht und auf einen Knopf drückt, aber genau weiß, was er da macht oder programmiert. Der Wissensanteil wird in der Industrie immer größer. Wir reden hier von künstlicher Intelligenz und zunehmender Digitalisierung. Das muss in der Diskussion berücksichtigt werden.

Der deutsche Mittelstand ist ja oft auch Technologieführer. Es gibt eine ganze Reihe von Start-ups mit spannenden Geschäftsmodellen und Ideen. Die müssten in einer deutschen Industriestrategie einen deutlich größeren Rahmen finden als bislang im Entwurf des Bundeswirtschaftsministers.

Das Ganze müsste dann auf eine europäische Ebene übertragen werden. Dann wird es sicherlich schwierig?

Allerdings, zumal ja die europäischen Partnerländer in Punkto Mittelstand nicht so gut aufgestellt sind. Jedes Land hat dafür eigene Stärken. Unsere Stärken sind der Mittelstand und das Nebeneinander von Groß und Klein.

Italien beispielsweise hat einige industrielle Cluster, ist aber ganz anders aufgestellt als Deutschland.

Die südeuropäischen Länder sind sehr viel mehr auf Tourismus ausgerichtet. Frankreich hat eine sehr zentralistisch orientierte Industrie. Schweden hat eine spannende Start-up-Szene. Diese Aufzählung könnte man fast endlos fortsetzen und spezifizieren.

Im Prinzip muss jedes Land erstmal sagen, wo es sich eigentlich in Zukunft sieht. Da kann Deutschland nicht kommen und sagen, wir haben jetzt unsere Industriestrategie und stülpen die Europa über.

Das Gespräch führte Klaus Ulrich.

Friederike Welter führt seit 2013 das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn als hauptamtliche Präsidentin. Daneben lehrt sie Allgemeine BWL an der Universität Siegen, insbesondere das Management kleiner und mittlerer Unternehmen und Entrepreneurship. Für ihr wissenschaftliches Werk wurde die Professorin im August 2017 mit dem Greif Research Impact Award ausgezeichnet. Mit dem renommierten Preis werden jährlich wissenschaftliche Beiträge gewürdigt, die in hochrangigen Management- und Entrepreneurship-Zeitschriften erschienen sind und innerhalb von sechs Jahren am häufigsten zitiert wurden. Die Auszeichnung wird jährlich von der University of Southern California, Greif Center for Entrepreneurial Studies, vergeben. Welter ist sowohl Mitglied im Mittelstandsbeirat des Bundeswirtschaftsministeriums als auch in dem der NRW-Landesregierung und gehört zu den einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftlern in Deutschland.

 

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