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Politik

Expertin: Türkei überschreitet keine roten Linien Russlands

Roman Goncharenko
5. August 2022

Am 5. August treffen sich die Präsidenten Russlands und der Türkei in Sotschi. Wie schafft es Erdogan, die Beziehungen zu Moskau aufrechtzuerhalten und gleichzeitig der Ukraine im Krieg gegen Russland zu helfen?

Putin empfängt Erdogan in Sotschi
Wladimir Putin (li.) und Recep Tayyip Erdogan im vergangenen September in SotschiBild: Vladimir Smirnov/Sputnik/REUTERS

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan trifft sich heute mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin im russischen Badeort Sotschi. Es wird erwartet, dass sie unter anderem über den Krieg in der Ukraine und die Wiederaufnahme des Getreideexports über das Schwarze Meer sprechen werden, bei dem die Türkei eine Vermittlerrolle gespielt hat. Kurz vor dem Besuch sprach die DW mit Maryna Vorotnyuk, einer führenden Expertin für die Schwarzmeerregion am Royal United Services Institute (RUSI) in London, über Ankaras Vermittlerrolle - und darüber, wie Erdogan es schafft, politisch zwischen Russland und der Ukraine zu manövrieren.

DW: Frau Vorotnyuk, kann man sagen, dass die Wiederaufnahme der ukrainischen Getreideexporte vor allem für die Türkei als Vermittlernation und ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Erfolg ist?

Maryna Vorotnyuk: Zunächst einmal ist die Position der Türkei in Bezug auf die Ukraine und Russland ziemlich komplex und zweideutig. Obwohl die Türkei Mitglied der NATO ist, hat sie immer versucht, die Rolle einer Brücke zwischen dem Westen und Russland zu spielen. Die Türkei hat ihre eigenen strategischen nationalen Interessen, und es liegt nicht in ihrem Interesse, eine offene pro-NATO- oder pro-russische Position einzunehmen, auch keine pro-ukrainische Position. Die Tatsache, dass es ihr gelungen ist, in diesem Getreideabkommen die Rolle eines Vermittlers zwischen der Ukraine und Russland zu spielen, ist wahrscheinlich ein Beweis dafür, dass Russland die Rolle der Türkei auch als durchaus nützlich für russische Interessen ansieht und dann natürlich versucht, für sich einige diplomatische und politische Dividenden daraus zu schlagen. Die Aufhebung der Blockade ukrainischer Häfen ist ein sehr wichtiges Ereignis, und die Rolle der Türkei ist hier wirklich bedeutsam.

Marina Vorotnyuk Bild: privat

Was ist Erdogans Geheimnis? Wie schafft er es, auf zwei Stühlen zu sitzen? Einerseits liefert die Türkei Bayraktar-Drohnen an die Ukraine und positioniert sich gleichzeitig als Vermittlerin. Gleichzeitig verhängt die Türkei keine Sanktionen gegen Russland - im Gegenteil, sie hilft Russland, westliche, von Sanktionen betroffene Waren zu erhalten.

Diese Position spiegelt die strategische Kultur der Türkei wider. Die Türkei hat ihre eigenen strategischen Interessen, und es liegt in diesem Interesse, die Rolle eines Partners mit gleichem Abstand sowohl zu Russland als auch zur Ukraine zu spielen. Das heißt, für die Türkei ist es kein Widerspruch, dass sie Bayraktar-Drohnen an die Ukraine oder beispielsweise Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach liefert, wo es auch zu gewissen Kollisionen mit russischen Interessen kommt, oder wiederum die Gegner Russlands in Syrien oder Libyen unterstützt und gleichzeitig russische S-400-Luftabwehrsysteme kauft, der russischen Firma Rosatom den Bau eines Kernkraftwerks in Akkuyu in der Türkei erlaubt oder russisches Gas kauft.

Es sind also eine Reihe von Faktoren, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Aber der Türkei gelingt es, diesen Spagat zwischen Russland und dem Westen aufrechtzuerhalten. Sie haben gefragt, was Erdogans Geheimnis ist. Viele sagen oft, die Chemie zwischen Erdogan und Putin stimme: zwei autoritäre Führer, die einen bestimmten Führungsstil haben und gewisse Konfliktthemen auf höchster Ebene lösen können - sehr oft vertraulich, wie sie sagen. Aber uns ist klar, dass es hier wohl nicht um Vertrauen geht, sondern um einen gewissen Respekt vor den Interessen des anderen. Und dieser Respekt ermöglicht es ihnen, Einflusssphären in der Region zu teilen, einschließlich im Schwarzen Meer.

Viele sagten voraus, dass die offene Unterstützung der Türkei für die Ukraine früher oder später zu einer roten Linie für Russland werden und zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Türkei führen würde. Wir sehen immer noch keine offene Konfrontation.

Unterzeichnung des Abkommens über Getreidelieferungen im Dolmabahce-Palast in IstanbulBild: Khalil Hamra/AP/dpa/picture alliance

Sie sprechen von einer roten Linie. Wo verläuft sie für Russland in der Zusammenarbeit mit der Türkei?

Die Türkei achtet sehr darauf, diese roten Linien nicht zu überschreiten. Das heißt, die Lieferung von Bayraktars - ja, das ist ein offener Nerv in den Beziehungen zwischen Russland und der Türkei. Dies ist eine russische Schwiele, auf die die Türkei tritt, aber gleichzeitig macht die Türkei alles, damit dies nicht zu sehr weh tut, und sie versucht, dies durch Zugeständnisse in anderen strategischen Bereichen auszugleichen. Zum Beispiel versucht sie, sehr vorsichtig auf die russische Politik im Schwarzen Meer zu reagieren. Trotz der Tatsache, dass die Türkei ein äußerst wichtiger Akteur am Schwarzen Meer ist, sehen wir dennoch, dass sie es Russland erlaubt, das Schwarze Meer dort zu dominieren.

Die Türkei versucht, Russland bestimmte Dividenden anzubieten, indem sie sich den Sanktionen nicht anschließt, ihren Luftraum seit dem 24. Februar für russische Flugzeuge nicht geschlossen und russischen Flugzeugen internationale Flüge erlaubt hat und russische Touristen einlädt.

Inwieweit spielt Erdogan in dieser Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine ein eigenständiges Spiel? Oder stimmt er sein Vorgehen immer noch mit den USA ab?

Das ist schwer zu sagen. Tatsache ist, dass der türkisch-amerikanische Dialog in den letzten Jahren von sehr schweren Konflikten überschattet wurde. Als Joe Biden Präsident wurde, gab es Hoffnungen, dass er versuchen würde, den Dialog mit der Türkei wieder aufzunehmen, da er sich des strategischen Gewichts der Türkei bewusst ist. Wir sehen derzeit keine wesentliche Verbesserung dieser Beziehungen. Daher kann ich nicht sagen, dass es was Russland angeht irgendeine bestimmte tägliche Koordination gibt. Dies scheint mir unmöglich. Aber natürlich werden die Interessen des anderen berücksichtigt.

Eine türkische Bayraktar-Drohne bei Übungen in der UkraineBild: Yulii Zozulia/Avalon/Photoshot/picture alliance

In der Türkei fanden bereits mehrere Gesprächsrunden zwischen Russland und der Ukraine statt. Inwieweit kann die Türkei in den kommenden Wochen oder Monaten versuchen, die Ukraine vorsichtig dazu drängen, die Verhandlungen mit Russland wieder aufzunehmen, beispielsweise über einen Waffenstillstand?

Was diese Frage angeht, bin ich sehr pessimistisch. Inwieweit kann denn ein Vermittler eine konstruktive Rolle spielen, wenn der Aggressorstaat nicht bereit ist, seine bewaffneten Aktionen einzustellen? Ich denke, wir sollten uns der begrenzten Position der Türkei in dieser Frage im Klaren sein. Was die Versuche der Türkei betrifft, die Ukraine zu irgendeiner Art von Abkommen zu drängen, so sehen wir dies bereits: Wenn man sich das Vokabular von Erdogan und anderen türkischen Vertretern anschaut, so sagen sie, dass es sehr wichtig ist, Frieden zu schließen, und sie versuchen, die Frage, wer das Haupthindernis auf dem Weg zu Frieden ist, vorsichtig zu umgehen. Was Russland jetzt tut, ist nur ein Versuch, Zeit zu gewinnen. Es ist ein Versuch, sich als vertrauenswürdigen Partner zu präsentieren, dem die Ernährung der Welt am Herzen liegt, der aber in Wirklichkeit seine militärischen Ziele in der Ukraine weiterverfolgt. Und wenn die Türkei versucht, ein Getreideabkommen als Weg zu einer Einigung darzustellen, so scheint mir das eine gewisse Illusion zu sein, denn im russischen strategischen Kalkül können diese beiden Faktoren, also zwei Ausrichtungen der Politik durchaus koexistieren.

Maryna Vorotnyuk ist Associate Fellow am Royal United Services Institute (RUSI), dem führenden Thinktank für Verteidigung und Sicherheit im Vereinigten Königreich. Sie befasst sich mit Sicherheitsfragen in der Schwarzmeerregion, der russischen, ukrainischen und türkischen Außenpolitik und dem russisch-ukrainischen Konflikt.

Das Gespräch führte Roman Goncharenko. Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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