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Explosionen der Wut in China

Dennis Stute8. August 2005

Immer wieder brechen in Chinas Provinzen Unruhen aus. Das Regime reagiert mit einer Mischung aus Unterdrückung und Zugeständnissen.

Knüppeln will gelernt sein: Polizeiübung in ChinaBild: AP
Ein Mann bettelt mit seinem Kind in SchanghaiBild: dpa

Als im Morgengrauen die Polizei kam, griffen die Dorfbewohner zu den Waffen. Rund 800 Polizisten waren nötig, um in den südchinesischen Provinzen Hezhou und Guanxi im Süden Chinas illegale Minen zu schließen. Am Ende habe die Polizei Schusswaffen und Macheten beschlagnahmt und 47 Leute festgenommen, berichteten chinesische Medien am Freitag (5.8.). Ob es bei den Zusammenstößen Tote oder Verletze gab, blieb unerwähnt.

Polizeiwagen in Flammen

Models zeigen in einer Boutique in Schanghai SchmuckBild: dpa

Erst zwei Wochen zuvor hatte es in der 300 Kilometer südlich von Schanghai gelegenen Stadt Xinchang drei Tage lang schwere Unruhen gegeben, bei denen 15.000 Demonstranten Polizisten mit Steinen angriffen und Polizeifahrzeuge umwarfen. Die Proteste richteten sich gegen die örtliche Chemiefabrik, von der es hieß, sie vergifte das Trinkwasser. Ende Juni genügte in der Stadt Chizhou ein leichter Unfall als Auslöser: Der Besitzer eines Privatkrankenhauses hatte mit seinem luxuriösen Toyota einen Radfahrer gerammt. Es kam zum Streit, aus dem achtstündige Ausschreitungen mit 10.000 Beteiligten wurden, in deren Verlauf der Toyota und drei Polizeiwagen in Flammen aufgingen. Nach Angaben der chinesischen Regierung wurden im vergangenen Jahr 74.000 solcher Zwischenfälle gezählt. Zehn Jahre zuvor waren es nur 10.000 gewesen.

"Jede Menge Zündstoff"

Ein Vierjähriger in Guiyang (Provinz Guizhou)Bild: dpa

"Es gibt in China heute jede Menge sozialen Zündstoff", sagt Thomas Scharping, Sinologe an der Universität Köln. Während es mit den neu entstandenen Mittelklassen zahlreiche Profiteure des Wirtschaftsbooms gebe, würden Arbeiter in den boomenden Küstenregionen oft unter menschenunwürdigen Bedingungen zu Hungerlöhnen beschäftigt. Das Leben im Hinterland sei oft so erbärmlich, dass diese Arbeitsplätze für Wanderarbeiter attraktiv seien. In Liaoning, Chinas Stahlregion, sei der Lebensstandard in den vergangenen Jahren deutlich gefallen. "Das Konfliktpotenzial entlädt sich auf lokaler Ebene in Ausbrüchen von Verzweiflung und Wut", sagt Scharping.

Stabilität als Risikofaktor

Der Platz des Volkes in SchanghaiBild: dpa

Die soziale Stabilität sei inzwischen der größte Risikofaktor für Chinas Entwicklung, glaubt Nicolas Schlotthauer von der Fondsgesellschaft DWS Investments. Die Ungleichheit werde durch die weit verbreitete Korruption verschärft. So habe die Zentralregierung zwar die Landwirtschaftssteuer abgeschafft, doch auf den Dörfern kämen solche Veränderungen oft nicht an, da örtliche Bürokraten willkürlich Abgaben eintrieben. "Investoren, die sich langfristig in China engagieren wollen, müssen das beachten. Denn die politische Stabilität ist - unabhängig davon, wie sie erkauft werden mag - ein Plus." Ein Faktor der in den vergangenen 27 Jahren zum Erfolg der Wirtschaftsreformen beigetragen habe, sei die Tatsache, dass es in dem graduellen Prozess viele Gewinner gegeben habe. "Solange die wirtschaftliche Lage stabil bleibt, können die sozialen Eruptionen noch als Einzelfälle deklariert werden", sagt Schlotthauer. Bislang drücke sich darin noch keine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Regime, sondern nur mit örtlichen Missständen aus.

Enorme Herausforderungen

Arbeitslose suchen mit Schildern nach Jobs auf dem BauBild: AP

Karl Pilny, Autor des Buches "Das asiatische Jahrhundert", geht davon aus, dass die Unruhen in den kommenden Jahren zunehmen werden: "Mit der wirtschaftlichen Entwicklung geht eine Veränderung der Werte einher, die angesichts des unglaublichen Tempos schwer zu verdauen ist." Das Land stehe, etwa mit den noch anstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben, in denen Millionen von "verdeckten Arbeitslosen" arbeiteten, vor enormen Herausforderungen. Der Staatsführung sei dabei bewusst, dass die Situation fragil sei: "Bei Unruhen versucht die Regierung, schnell gegenzusteuern, bevor ein Flächenbrand entsteht - etwa indem sie Beamte abberuft."

Ventile im System

Arbeiter einer Kohlegrube in Pingba im Südwesten ChinasBild: dpa

Mit Dorfwahlen und Beschwerde-Mechanismen habe das Regime versucht, Ventile zu schaffen, sagt der Sinologe Scharping: "Es ist eine Stärke des Systems, dass es viel experimentiert. Solche Dinge werden erst in einem Dorf ausprobiert, dann in einer Stadt und schließlich auf Provinzebene eingeführt." Doch der Hauptgrund, weshalb Scharping - wie die meisten Experten - nicht damit rechnet, dass aus den einzelnen Aufständen eine große Bewegung entsteht, ist ein anderer: Dazu fehle es schlicht an Kommunikation zwischen den Beteiligten; Grundvoraussetzung für die Entstehung einer Organisation, eines Programms und einer überregional bekannten Führung. "Das Regime trägt - zum Beispiel mit einer starken Internetbürokratie - systematisch Sorge dafür, dass das auch so bleibt." Zudem wirke bis heute das Massaker an protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 nach: "Viele Menschen haben größere politische Veränderungen innerlich als zum Scheitern verurteilt abgebucht."

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