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Anschlag am Breitscheidplatz vor fünf Jahren

19. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2016 tötete der islamistische Attentäter Anis Amri mit einem LKW zwölf Menschen auf dem Weihnachtsmarkt. Die Hintergründe sind weiter unklar.

Deutschland Gedenken an Opfer des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz in Berlin
Gedenken an die Opfer des Terroranschlags vor einem Jahr, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (Mitte)Bild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

13 Mal werden an diesem Sonntag die Glocken der Berliner Gedächtniskirche läuten, für jedes der Opfer einmal. Genau um 20.02 Uhr, zur gleichen Zeit, als Anis Amri vor fünf Jahren mit einem gestohlenen Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt raste. Und Deutschland schmerzhaft bewusst wurde, dass der Terror auch hierzulande angekommen ist.

Ein Mahnmal erinnert daran: ein goldfarbener Riss, der den Boden am Anschlagsort vor der Kirche mehr als 15 Meter lang durchzieht, auf den Treppenstufen zur Kirche sind die Namen der Toten eingraviert. Jetzt sind es 13 Opfer, nachdem in diesem Jahr noch ein Ersthelfer als Folge seiner schweren Verletzungen vom Attentat starb.

Opfer und Angehörige fühlen sich allein gelassen

Bei der Gedenkveranstaltung wird auch Frank-Walter Steinmeier sprechen. Und eines ist sicher, der Bundespräsident wird dabei auch etwas über den Umgang mit den Opfern und den Angehörigen sagen. Der Psychologe Rainer Rothe, der viele der Leidtragenden therapiert, hatte sich in diesen Tagen an das Staatsoberhaupt gewandt, seine Vorwürfe wiegen schwer. Es habe "fatale und menschenverachtende Umgangsformen der Behörden" gegeben.

Hilfe sei gar nicht oder erst nach Monaten oder Jahren geleistet worden. Nach einer eigenen Befragung des Berliner Psychologen lagen zwischen Anschlag und Therapiebeginn im Durchschnitt 357 Tage, also knapp ein Jahr. Viele hätten sich aus lauter Frust irgendwann einen Anwalt genommen. Sein erschütterndes Fazit: Es fehle in vielen Institutionen Deutschlands Fachwissen in der Traumatherapie.

Sicherheitsvorkehrungen seit dem Anschlag verschärft

Kein Ruhmesblatt also für die deutschen Behörden fünf Jahre nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz, und auch bei der Aufklärung des Attentats sind immer noch viele Fragen offen. Die entscheidende: War der tunesische Terrorist Anis Amri wirklich ein Einzeltäter und plante den Anschlag vollkommen allein? Pünktlich zum fünften Jahrestag berichtet der RBB, Amri habe den Auftrag zum Attentat von einem hohen Funktionär des sogenannten Islamischen Staates bekommen.

Vorwürfe gegen Berliner Behörden im Fall Amri

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Eine Fahrt mit einem Sattelschlepper in eine Menschenmenge auf einem Weihnachtsmarkt wäre im Jahr fünf nach dem Attentat zumindest so leicht nicht mehr möglich: Dutzende Poller und Betonbarrieren versperren nicht nur an der Gedächtniskirche, sondern auf vielen Plätzen Berlins die Zufahrt. Die strengen Sicherheitsvorkehrungen sind die Antwort auf den schwersten islamistischen Anschlag hierzulande vom 19. Dezember 2016, der nicht nur die Hauptstadt, sondern ganz Deutschland traumatisierte.

Flucht des Attentäters endet in Italien

Im Vorfeld der Tat erschießt Amri, der als Flüchtling 2015 nach mehrjähriger Haft in Italien nach Deutschland gekommen war, einen polnischen Fernfahrer und kapert dessen Sattelschlepper. Den mit etwa 25 Tonnen Baustahl beladenen LKW steuert Amri auf den gut besuchten Weihnachtsmarkt. Elf Menschen werden getötet und 60 weitere verletzt, die bis heute an den Folgen des Anschlags leiden.

Nach dem Attentat flüchtet der Tunesier über die Niederlande, Belgien und Frankreich nach Italien. Am Morgen des 23. Dezember wird er von einer Polizeistreife in der Nähe von Mailand angehalten und eröffnet sofort das Feuer auf die kontrollierenden Polizisten. Mit derselben Pistole, mit der er den polnischen Fernfahrer getötet hatte. Amri stirbt bei dem Schusswechsel. Ein Mann, der jahrelang als islamistischer Gefährder im Visier der deutschen Sicherheitsbehörden stand. Die aber irgendwann zu der fatalen Fehleinschätzung kamen, von Amri gehe keine Gefahr mehr aus.

Sicherheitsbehörden im Mittelpunkt der Kritik

Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages beschäftigte sich mehr als drei Jahre lang mit der Frage, ob das Attentat nicht hätte verhindert werden können. Das vernichtende Urteil des fast 1900 Seiten langen Berichtes: eklatante Fehler der Sicherheitsbehörden wie Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz vor allem im Hinblick auf den Austausch von Informationen, insbesondere ein Versagen bei der Gefährdungsanalyse Amris durch die Polizeibehörden und eine Bundesregierung, die als Konsequenz statt einer konsistenten Anti-Terror-Strategie das Ausländerrecht verschärft.

Auch das Berliner Abgeordnetenhaus untersuchte vier Jahre lang die Fehler, die den Anschlag erst möglich gemacht haben. Das Fazit lautet ähnlich: Kein einzelner Schuldiger, keine Einzelfehler, sondern erst durch die Summe der Versäumnisse bei Polizei und Verfassungsschutz konnte der islamistische Terrorist seine Attentatspläne in die Tat umsetzen. Der Journalist und Extremismusforscher Thomas Moser zieht in seinem Buch "Der Amri-Komplex" Parallelen zum Versagen der Sicherheitsbehörden bei dem NSU-Skandal und zweifelt auch daran, dass Amri ein Einzeltäter war. 

Auch bei der rechtsextremen Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes, der zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen zum Opfer fielen, hatte es eine ganze Reihe von Ermittlungspannen gegeben. 

Am Sonntag, dem 19. Dezember 2021, steht der Breitscheidplatz still. Schon am Mittag wird ein strenger Sicherheitsbereich rund um die Gedächtniskirche eingerichtet. Wer mit Blumen an das Schicksal der Opfer erinnern will, kann das zwar tun. Allerdings nur in Begleitung eines Polizeibeamten.

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