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"Für ein neues Tschernobyl reichen ein paar Kilo Sprengstoff"

18. Februar 2002

- Russland und die atomare Unsicherheit

Moskau, 18.2.2002, THE MOSCOW TIMES, engl., S. 3, Nabi Abdullajew

Ein Abgeordneter der Staatsduma, zwei Mitglieder von Greenpeace und drei Kameramänner von NTW haben sich in einen angeblich hochsicheren Industriekomplex in Westsibirien eingeschlichen und mehrere Stunden in der Nähe von Einrichtungen verbracht, in denen 3000 Tonnen Atommüll gelagert werden. Die sechs Leute machten Dutzende von Fotos, eine Video-Aufnahme und kehrten ungestört nach Moskau zurück.

"Wir haben uns durch ein zwei mal zwei Meter großes Loch im Stacheldraht Zugang verschafft und gingen auf gut ausgetretenen Pfaden, die wahrscheinlich von den örtlichen Bewohnern stammen, weiter", berichtete Sergej Mitrochin, liberaler Abgeordneter der Jabloko-Fraktion in der Duma, über sein Eindringen in das Krasnojarsker Bergbau- und Chemieunternehmen. NTW berichtete am Donnerstagabend in einer Sondersendung darüber. "Die Wachposten fuhren mehrfach an uns vorbei, wir gingen an ihren Postenstellen vorbei, wir taten aber so, als seien wir von hier, und keiner stoppte uns."

Im November wurden 41 Tonnen Atommüll aus dem bulgarischen Kosloduj nach einem kontroversen Gesetz, das den Import verbrauchten atomaren Brennstoffs zur Wiederaufbereitung und Lagerung gestattet, nach Krasnojarsk gebracht. Die Befürworter des von Präsident Wladimir Putin im Juli unterzeichneten Gesetzes behaupten, die Einfuhr von etwa 20 000 Tonnen Atommüll könnte Russland in den nächsten zehn Jahren etwa 20 Milliarden US-Dollar einbringen. Umweltschützer waren jedoch gegen dieses Gesetz. Ihr Argument: die Umwandlung Russlands in die führende Atommüll-Wiederaufbereitungsanlage der Welt würde einen Umweltschaden anrichten, den die Milliarden, die die Einfuhr einbrächte, nicht aufwiegen könnten. Als die ersten Atommüll-Ladungen aus Bulgarien im November in Russland eintrafen, demonstrierten Greenpeace-Mitglieder in Gasmasken und Schutzkleidung vor dem Atomministerium.

Mitrochin sagte am Freitag auf einer Pressekonferenz in Moskau, sein Einbruch in dem Krasnojarsker Komplex sollte zeigen, dass Russland auf den Import radioaktiven Materials gar nicht vorbereitet ist. Das atomare Sicherheitssystem des Landes sei nicht nur schlecht, sondern es gebe gar keines.

Mitrochin, der der Kommission des Präsidenten für die Kontrolle der Atommüll-Importe angehört, sagte, das Atomministerium habe bei einer Anhörung über Umweltsicherheit am 7. Februar in der Duma den Abgeordneten versichert, dass es in seinen Einrichtungen keine Sicherheitsprobleme gebe. Mitrochin erklärte aber am Freitag, er hätte mit Leichtigkeit auf das Dach der Krasnojarsker Anlage klettern und auf diese Weise eindringen können. "Ich war schockiert, als ich das sah", sagte er. "Jeder kann sich einem Lager mit hochgefährlichem Material nähern und dort tun, was er will. Und das Atomministerium will 20 000 Tonnen Atommüll aus dem Ausland hierher bringen und es einfach so herumliegen lassen."

Nach Mitrochins Worten werden die Sicherheitsmaßnahmen in den meisten der 96 russischen Atomanlagen vom föderalen Haushalt nicht gedeckt. Als Mitglied der internationalen Anti-Terror-Koalition müsse Russland mehr Verantwortung für die Sicherheit ihrer Atomanlagen übernehmen, andernfalls werde es zum "schwächsten Glied der Koalition und ein potentielles Ziel für Terroristen".

Wladimir Tschuprow, Atomexperte bei Greenpeace, teilt seine Befürchtungen. "Einige Nutzend Kilo normalen Sprengstoffs würden reichen, um dort ein neues Tschernobyl zu entfachen", sagte er am Freitag. Die Strahlung in den Atommülldeponien der Anlage habe die Stärke von einer Milliarde Curie.

Die Leitung der Krasnojarsker Anlage behauptete jedoch in der vergangenen Woche fest, die Lagerung und die Transporteinrichtungen seien nach wie vor sicher. "Wir beschäftigen mehrere Hundert Wachleute und werden von einem Regiment der Truppen des Innenministeriums geschützt", erklärte der Leiter der Anlage, Wassilij Schidkow, in dem NTW-Bericht. Ob er wusste, dass Mitrochin dort eingedrungen war, ist unklar.

Mitrochin erklärte, er werde Putin die Videoaufzeichnung zuschicken. Greenpeace teilte mit, man habe dem Föderalen Sicherheitsdienst und der Generalstaatsanwaltschaft Briefe über die Sicherheitsverstöße in der Anlage geschickt. (TS)