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Asylbewerber-Verteilung

Andrea Grunau25. Dezember 2014

4,5 Quadratmeter in einer überfüllten Sammelunterkunft, Container oder Wohnung, Großstadt oder Land - wo und wie Asylbewerber leben, die nach Deutschland kommen, hängt von vielem ab, zuallererst von EASY.

Neben dem Schild 'Bundesamt für Migration und Flüchtlinge' geht ein -Mann durch eine Tür (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/C. Rehder

Wenn eine Syrerin vor dem Bürgerkrieg zu ihrem Bruder nach Niedersachsen flieht, kann es sein, dass sie dort nicht bleiben kann. Der Grund: Die sozialen und finanziellen Folgen durch die Aufnahme von Flüchtlingen sollen einigermaßen gerecht über alle 16 Bundesländer in Deutschland verteilt werden. Dazu gibt es vorgeschriebene Verteilungsregeln.

Die Syrerin muss sich also - wie alle Asylsuchenden - bei einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) melden. Die BAMF-Mitarbeiter schauen bei EASY nach. Das ist ein Computer-Programm zur "Erstverteilung von Asylbegehrenden" auf die einzelnen Bundesländer. Es kann passieren, berichtet Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachen, dass EASY die Syrerin nach Bayern schickt. 600 Kilometer entfernt müsste sie dann auf staatliche Kosten versorgt werden, obwohl ihr Bruder sie aufnehmen könnte. "So etwas erleben wir immer wieder", sagt Weber.

Den Anspruch, nicht getrennt zu werden, haben nur Eltern und minderjährige Kinder. Wer verteilt ist, bekommt für die Dauer des Asylverfahrens zwar gestattet, sich in Deutschland aufzuhalten, nur wo genau, das wird den Asylsuchenden vorgeschrieben. Und das hieße für die Syrerin, dass sie auch nach der Pflichtzeit in der bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung - bis zu drei Monate - nicht zu ihrem Bruder umziehen darf.

Das System EASY verteilt Asylbewerber auf alle Bundesländer nach deren Einwohnerzahl und Steueraufkommen (Königsteiner Schlüssel). 2014 sollte Niedersachsen 9,4 Prozent aller Asylbewerber in Deutschland aufnehmen, etwa 20.000 Menschen. Zusätzlich zur Quote gilt, dass einige Herkunftsstaaten nur in bestimmten Bundesländern bearbeitet werden, damit für die Anhörung im Asylverfahren immer Länderexperten da sind. Menschen aus dem Sudan müssen daher zum Beispiel alle nach Niedersachsen. Syrer dagegen werden auf alle Bundesländer verteilt.

Wie Asylbewerber nach dem EASY-Entscheid leben, ist in Deutschland extrem unterschiedlich und klappt mal mehr, mal weniger gut. Vor der völlig überfüllten Bayernkaserne in München kampierten im Herbst 2014 Asylbewerber unter freiem Himmel. Kai Weber hält das für Missmanagement der Behörden. Die Zahl der Asylbewerber sei zwar angestiegen, doch es kämen nur halb so viele Menschen wie Anfang der 1990er Jahre. Eigentlich habe Deutschland ein System, "das jedem Flüchtling ein Dach über dem Kopf garantiert, anders als in Italien, wo Menschen tatsächlich in Baracken, leer stehenden Häusern oder auf der Straße übernachten müssen."

Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats NiedersachsenBild: Flüchtlingsrat Niedersachsen

Welche Regeln gelten in Deutschland? Andreas Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, hat für das Europäische Migrationsnetzwerk 2013 eine Studie über die "Organisation der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern" geschrieben. "Eine einheitliche Praxis lässt sich nicht beschreiben", sagt Müller, weil jedes Bundesland die Unterbringung ganz unterschiedlich regeln kann. 2013 schwankte die "Wohn- und Schlaffläche pro Person in einer Gemeinschaftsunterkunft zwischen 4,5 und 6 Quadratmetern pro Person". Manche Bundesländer haben gar keine Regelungen.

Abschreckung durch Lager - Werbung aus Goslar

Die Unterschiede zwischen den Bundesländern betont auch der Politikwissenschaftler Kay Wendel und spricht von einer "Lotterie mit brutalen Auswirkungen". Für die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat er eine Studie zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland erstellt. Während Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen die Flüchtlinge zum Großteil auf Wohnungen verteilten, setzten Baden-Württemberg, Brandenburg oder Sachsen auf Gemeinschaftsunterkünfte. Diese liegen teilweise in abgelegenen Regionen und seien häufig so groß, dass das Konfliktpotential dort zunehme, sagt Wendel: "Sachsen ist für mich ein abschreckendes Beispiel." Tatsächlich sei der Wunsch nach Abschreckung lange ein wichtiges Motiv für Verteilung und Unterbringung gewesen. Vorreiter sei Baden-Württemberg mit ersten "Sammellagern" in den 1980er Jahren gewesen, berichtet Wendel. In Bayern habe noch bis 2013 gegolten, die Zuweisung diene dazu, "die Bereitschaft zur Rückkehr in die Heimatländer zu fördern".

Eine ganz andere Botschaft sandte Ende 2014 der Oberbürgermeister der niedersächsischen Stadt Goslar: Oliver Junk sagte, er wolle in der 50.000-Einwohnerstadt mehr Flüchtlinge aufnehmen, als ihr bisher zugeteilt werden. Weil Goslar Einwohner verliere, könnten die Asylbewerber hier besser untergebracht werden als in Großstädten wie Hannover oder Braunschweig. Die Wirtschaft in Goslar würde von den Zuwanderern profitieren.

Der Bürgermeister von Goslar möchte mehr Asylbewerber in die Weltkulturerbe-Stadt holen, die Einwohner verliertBild: picture-alliance/dpa

"Wir begrüßen das ohne Einschränkung", sagt Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. Wirtschaftsinstitute sagten seit langem, dass Einwanderung langfristig ein Gewinn sei. 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge seien Akademiker. Allerdings mache es keinen Sinn, Flüchtlinge "in sterbende Dörfer im Harz ohne Verkehrsanbindung und Infrastruktur" zu verteilen, warnt Kai Weber: "Auch ein syrischer Arzt, der kommt, muss Sprachkenntnisse erwerben und die deutsche Medizin so weit kennen lernen, dass er hier im Krankenhaus arbeiten kann." Das werde in einem Bergdorf im Harz nicht funktionieren.

In Schleswig-Holstein, sagt Weber, werde schon diskutiert, die Verteilung zu ändern. Der rigide Schlüssel, der Flüchtlinge bis ins letzte Dorf schicke, führe dazu, "dass wir Intellektuelle auf dem letzten Kuhdorf in Ostfriesland haben, die dort todunglücklich sind, weil sie keine Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung haben." Es könne sinnvoll sein, regt Weber an, Flüchtlinge ungleichmäßig in Deutschland dahin zu verteilen, wo es Qualifikationsmöglichkeiten, Sprachkurse und Unterstützung gebe. In Osnabrück etwa plane man von Beginn an den Auszug aus der öffentlichen Unterbringung und begleite die Menschen mit intensiver Sozialarbeit, damit sie auf eigenen Füßen stehen können. Wer sich in Deutschland weiter qualifiziere, bei dem könnte gegebenenfalls auch eine Rückkehr ins Heimatland besser gelingen.

Die Ausnahme: Unbegleitete Minderjährige werden nicht EASY-verteilt

Einige Asylbewerber gelten als besonders schutzbedürftig. BAMF-Mitarbeiter Andreas Müller zählt sie auf: "Unbegleitete Minderjährige, Traumatisierte, Opfer von Folter, schwerer Gewalt oder sexueller Gewalt, Alte, Menschen mit Behinderungen, Schwangere und Alleinerziehende". Auch für sie gebe es in Deutschland keine einheitlichen Regeln bei der Unterbringung, mit einer Ausnahme: die "unbegleiteten Minderjährigen". Das Jugendhilferecht schreibt vor, dass sie vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Sie werden nicht über EASY quer durch Deutschland verteilt. Bayern möchte das ändern, doch viele Hilfsorganisationen warnen davor.

Minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung sollen nur im Sinne des Kindeswohls verteilt und untergebracht werdenBild: picture-alliance/dpa

Nicht nur EASY wird befragt, wenn ein Asylbewerber in Deutschland ankommt. Die Behörden sehen auch in der Eurodac-Datei nach. Wenn die Fingerabdrücke des Asylbewerbers schon in einem anderen EU-Staat registriert wurden, soll dieser ihn aufnehmen. Doch das System, das so genannte "Dublin-Verfahren", funktioniert kaum. Weil bisher nur fünf EU-Staaten die große Mehrheit aller Flüchtlinge aufnehmen, hat der deutsche Innenminister Thomas de Maizière gefordert, europaweit eine Quote vergleichbar zum deutschen Verteilungsschlüssel einzuführen. Kay Wendel findet eine Verteilung quer durch Europa problematisch: "Dann heißt es, Lettland hat noch Plätze." Besser wäre es, "Geld zu verschieben statt Menschen", fordert der Politikwissenschaftler.

In der Bevölkerung scheint es durchaus Interesse an einer breiten Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland zu geben. Eine Meinungsumfrage im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung ergab: Zwei Drittel der Befragten können sich vorstellen, Asylbewerber persönlich zu unterstützen. 42 Prozent sagten, sie fänden es spannend, Asylsuchende näher kennenzulernen.

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