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PolitikBrasilien

Faktencheck: Macht Brasiliens Justiz "Jagd" auf Bolsonaro?

2. September 2025

Ist Brasilien eine Diktatur? Missbraucht Brasiliens Verfassungsgericht beim Prozess gegen Ex-Präsident Jair Bolsonaro seine Macht oder verteidigt es die Demokratie? DW Faktencheck hat umstrittene Aussagen überprüft.

Jair Bolsonaro sitzt auf einer Bank im Gottesdienst. Er trägt eine schwarze Jacke und blickt verdrossen nach vorne
Am 2. September beginnt der Prozess wegen versuchten Staatsstreiches gegen Brasiliens Ex-Präsident Bolsonaro (Archivbild)Bild: Eraldo Peres/AP Photo/picture alliance

Der Prozess gegen Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro ist schon jetzt historisch. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Landes steht ein Ex-Präsident wegen versuchten Staatsstreiches vor Gericht. Und ebenfalls zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur (1964-1985) müssen sich auch hochrangige Militärs vor einem zivilen Gericht verantworten.

Das Verfahren vor dem brasilianischen Verfassungsgerichtbeginnt am 2. September und zieht sich über fünf Sitzungstage bis zum 12. September hin. Neben Bolsonaro sind sieben weitere Personen angeklagt, darunter mehrere ehemalige Generäle und Kabinettsmitglieder.

Hintergrund ist der Sturm auf Brasiliens Regierungsviertel am 8. Januar 2023. Sie müssen sich wegen der "gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats, versuchten Staatsstreichs, Beteiligung an einer bewaffneten kriminellen Vereinigung, schwerer Sachbeschädigung und der Beschädigung von denkmalgeschütztem Kulturgut" verantworten.

Das Gerichtsverfahren sorgte bereits im Vorfeld für internationales Aufsehen. Denn Bolsonaro erhielt politische Rückendeckung von US-Präsident Donald Trump.

Dieser erklärte noch im Juli in einem Postin seinem Netzwerk Truth Social, dass Bolsonaro nicht schuldig sei und sprach von einer "Hexenjagd auf den Ex-Präsidenten und seine Familie". Außerdem verhängte er als Konsequenz drastische Zölle auf brasilianische Importe in die USA.

DW-Faktencheck hat sich drei Narrative zum Prozess angeschaut.

"Sie wollen mich politisch ausschalten": Auf Instagram erklärt Ex-Präsident Bolsonaro, dass "die Straftat, die ihm vorgeworfen wird, nicht existiert"Bild: Instagram

Behauptung: Der Prozess soll Bolsonaro politisch ausschalten.

Ex-Präsident Jair Bolsonaro erklärte in einem Video auf Instagram(siehe Foto). "Ich stehe vor Gericht, weil ich einen Staatsstreich verübt haben soll. An einem Sonntag, ohne Truppen, ohne Waffen, und während ich mich in den USA aufgehalten habe. Einfach unglaublich. Ein Verbrechen, das es nicht gibt. In Wahrheit wollen Sie mich, und damit die größte politische Allianz der Rechten in Südamerika, politisch ausschalten."

DW Faktencheck: Irreführend.

Es ist nicht das erste Mal, dass Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro vor Gericht steht. Er wurde bereits zweimal vom Obersten brasilianischen Wahlgericht (TSE) verurteilt. Einmal im Juni 2023 wegen falscher Behauptungen über elektronische Wahlurnen. Und im Oktober 2023 für die Instrumentalisierung des 200. Jubiläums der Unabhängigkeit Brasiliens für Wahlkampfzwecke.

Aufgrund dieser beiden Urteile kann Bolsonaro bei den bevorstehenden Wahlen 2026 nicht mehr antreten, unabhängig von dem aktuellen Prozess. Denn laut brasilianischer Gesetzgebungdürfen von der Justiz verurteilte Kandidaten acht Jahre lang nicht kandidieren.

Dies bedeutet, dass der aktuelle Prozess wegen angeblichen Staatsstreichs gegen Bolsonaro nicht mehr entscheidend dafür ist, ob der Ex-Präsident bei den Wahlen im kommenden Jahr kandidieren kann.

Richtig ist, dass Bolsonaro am 8. Januar 2023, als seine Anhänger den Regierungspalast in Brasília stürmten, sich in den USA aufhielt. Ob seine Abwesenheit ein Beleg dafür ist, dass er nicht in das Ereignis verwickelt war, soll während des aktuellen Prozesses geklärt werden. 

"Weg mit Lula, und weg mit Moraes": Anhänger von Ex-Präsident Bolsonaro fordern den Rücktritt von Verfassungsrichter Alexandre de Moraes und Präsident Lula bei einer Kundgebung in Rio de JaneiroBild: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images

Brasiliens Justiz: "Willkürlich und autoritär"?

Behauptung: Die Justiz betreibt Machtmissbrauch.

"Noch nicht einmal die politisch linke 'New York Times' kann den Machtmissbrauch von Verfassungsrichter Alexandre Moraes verstecken", schreibt Bolsonaros Sohn, der Bundes-Abgeordnete Eduardo Bolsonaro, in einem Post auf X und bezieht sich dabei auf einen Bericht der "New York Times" .

DW Faktencheck: Irreführend.

Der angebliche Machtmissbrauch der Justiz und die Kritik an Verfassungsrichter Alexandre de Moraes ist ein langjähriges Narrativ der Anhänger des Ex-Präsidenten. 

So bezeichneten Oppositionspolitiker im brasilianischen Senat auf einer Pressekonferenzim Juli die vom Verfassungsgericht verhängten Vorsichtsmaßnahmen gegen Bolsonaro als "willkürlich, autoritär und ein Zeichen eines staatlichen Ausnahmezustands". Darunter fällt, dass der Ex-Präsident eine elektronische Fußfessel tragen muss, sowie keine soziale Medien nutzen und Kontakte mit politischen Verbündeten pflegen darf.

Unerbittlich: Verfassungsrichter Alexandre de Moraes zieht das Verfahren gegen Bolsonaro durch. Von US-Präsident Trump wurde er mit Sanktionen belegtBild: Adriano Machado/REUTERS

Die "New York Times" greift diese Kritik auf. In dem Artikel heißt es: "Brasilien schafft etwas, was die USA nicht geschafft haben: 40 Jahre nach dem Ende einer brutalen Militärdiktatur bringt es einen ehemaligen Präsident vor Gericht, der nach einer verlorenen Wahl einen Staatsstreich versucht haben soll. Doch die Art und Weise, wie das geschieht, stellt das Land vor unangenehme Fragen." 

Zu den "unangenehmen Fragen" gehört laut NYT, dass das Gericht seine Autorität maximal nutzt. Das Verfassungsgericht verfüge über eine enorme Macht. So ordnete das Gericht die zeitweise Sperrung des sozialen Netzwerks X wegen Verbreitung von Fake News im Wahlkampf an. Trotz aller Kritik erhebt die NYT allerdings nicht den Vorwurf, dass das Gericht seine Befugnisse überschritten hätte.

Auch Experten üben Kritik. "Obwohl es ein rechtsstaatlicher Prozess ist, stört mich als Jurist die Tatsache, dass Moraes selbst zu Gericht sitzt, obwohl er laut Anklage neben Präsident Lula eines der geplanten Mordopfer gewesen sein soll", erklärt der Jurist Georg Witschel im DW-Gespräch.

Witschel ist Präsident der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft (DBG)und war von 2016 bis 2020 Botschafter in Brasilien. Seiner Ansicht nach müsste sich Moraes für befangen erklären.

Politikwissenschaftler Oliver Stuenkelhofft darauf, dass das brasilianische Verfassungsgericht "nach dem Prozess wieder zur Normalität zurückfindet". Der Umgang mit Fake News müsste gesetzlich geregelt und nicht vor dem Gerichtverhandelt werden.

"Danke, Präsident Trump, dass Du Brasilien gegen diese Diktatur verteidigst", steht auf dem Plakat, das Anhänger Bolsonaros bei einer Demonstration nochhalten. Viele sind der Meinung, Brasilien sei eine DiktaturBild: Nelson Almeida/AFP/Getty Images

Ist Brasilien noch demokratisch? 

Behauptung: Brasilien ist eine Diktatur.

 "Wenn es mein Vergehen ist, gegen die brasilianische Diktatur zu kämpfen, dann erkläre ich mich hiermit im Voraus für schuldig", schreibt Bolsonaros Sohn Eduardo auf Xam 21.8.2025. 

Der Abgeordnete lebt nach eigenen Angaben wegen "politischer Verfolgung" seit März 2025 in den USA. 

DW Faktencheck: Falsch.

Die Behauptung, Brasilien sei eine Diktatur, gehört zu den konstanten Narrativen der Anhänger Bolsonaros. Auch bei der jüngsten Massendemonstrationen für eine Amnestie Bolsonaros Anfang August in mehreren brasilianischen Städten, war dies auf Plakaten zu lesen (siehe Foto).

Die zahlreichen Demonstrationen belegen das Gegenteil. Denn in einer Diktatur wären die Demonstrationen der Anhänger des Ex-Präsidenten nicht möglich.

Auch die politische Arbeit von Volksvertretern ist in Brasilien nicht eingeschränkt. Denn im Gegensatz zu Eduardo Bolsonaro üben seine beiden Brüder Flavio (Mitglied des Senats) und Carlos (Abgeordneter im Stadtparlament von Rio de Janeiro) ihr Mandat in Brasilien aus.

Auch die Ergebnisse der Ermittlungen gegen Bolsonaro, darunter auch der Abschlussbericht der brasilianischen Kriminalpolizei, sind öffentlich einsehbar, ein Zeichen für den öffentlichen Zugang zu Information, den es in Diktaturen nicht gibt.

"What Brazil can teach America": Das Cover der britischen Zeitschrift Economist fragt, was die USA von Brasilien lernen können und zeigt Ex-Präsident Bolsonaro als Stürmer Weißen HausesBild: The Economist

Die britische Zeitschrift "Economist" zollte Brasilien in seiner jüngsten Ausgabe sogar höchste Anerkennung: "Brasilien erteilt Amerika eine Lektion in demokratischer Reife", titelte das Magazin.