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Wie groß ist das Infektionsrisiko im Stadion?

Ines Eisele | Isabela Martel | Joscha Weber
2. Juli 2021

Im Rahmen der Fußball-EM ist es zu zahlreichen Corona-Infektionen gekommen. Viele kritisieren die UEFA scharf für ihre Zuschauerpolitik - wobei die meisten Infektionen wohl eher dem Drumherum der EM zuzuordnen sind.

Fußball EM | Tschechien - England, Vorrunde | Fans England
Keine Abstände, keine Masken: Englische Fans beim EM-Spiel Tschechien gegen England in WembleyBild: Frank Augstein/AP Photo/picture alliance

Dieser Beitrag wurde zuletzt am02.07.2021 aktualisiert. Neuere Entwicklungen oder Daten wurden nicht berücksichtigt.

Die Fußball-Europameisterschaft wird in elf verschiedenen Städten in zehn Ländern ausgetragen und zeigt Bilder, die für viele nach anderthalb Jahren Pandemie befremdlich wirken: Menschenansammlungen auf engem Raum, aerosolgeschwängerte Fangesänge, Tausende ohne Maske - was bedeuten die ersten Massenevents auf europäischem Boden nach der gerade erst abebbenden dritten Welle für die Coronavirus-Pandemie? Unser Faktencheck gibt erste Antworten. 

Gab es Corona-Infektionen bei EM-Spielen?

Bei einigen Spielen der EURO 2020 wurden im Vorfeld Fans wegen positiver Corona-Schnelltests ausgesiebt, bei anderen wurden im Nachhinein Stadionbesucher positiv auf das Virus getestet.

Zuletzt stellte dieschottische Gesundheitsbehörde fest, dass 1991 Fans aus Schottland, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden, zuvor EM-Events besucht hatten, dazu zählen Stadien in London und Glasgow, aber auch Fanfeste, Übertragungen im Pub oder private Fußball-Partys. Allein 397 infizierte Fans sahen sich demnach das Spiel England-Schottland im Wembley-Stadion in London am 18. Juni an - und könnten dort unbewusst das Virus verbreitet haben. Denn Public Health Scotland schreibt, während der Besuche befanden sich die Personen in ihrem infektiösen Zeitfenster. 

Die schottischen Daten sind also kein Beleg für Infektionen im Stadion, sondern legen nahe, dass Hunderte Infizierte in die Arena gelangten - obwohl Stadionbesucher in London laut den UEFA-Regeln entweder ein negatives Corona-Testergebnis vorlegen oder nachweislich geimpft oder genesen sein müssen.

Abdeckungen auf den Sitzen sollen helfen, den Abstand zu wahren - aber ob die Fans dauerhaft auf ihren Plätzen bleiben?Bild: Philipp Guelland/AFP/Getty Images

Eine Erklärung könnte sein, dass es sich bei den für Wembley obligatorischen Tests lediglich um Schnelltests handelt - und diese nicht vor Ort durchgeführt werden, sondern bis zu 48 Stunden alt sein dürfen. So haben Stadionbesucher die Tests womöglich vor der Anreise durchgeführt und sich dann während der Anreise infiziert. Ein Szenario, das auch Aerosolforscher Gerhard Scheuch für plausibel hält. "Da waren dann vielleicht zwei bis drei Superspreader dabei, die die ganze Truppe infiziert haben", sagt er im Gespräch mit der DW. 

Auch nach dem Spiel Finnland-Belgien, das in St. Petersburg stattgefunden hatte, gab es eine Reihe von Corona-Fällen. Finnischen Medien zufolge wurden mindestens 86 Infektionen bei Personen festgestellt, die über die Landesgrenze zu Russland nach Finnland zurückkehrten. Wie genau sich die Betroffenen mit dem Coronavirus infiziert haben - also ob im Stadion selbst oder etwa bei der An- und Abreise - war bei den meisten unklar.

Darüber hinaus waren in Dänemark nach dem Spiel zwischen dem Gastgeber und Belgien drei Stadionzuschauer positiv, es handelte sich dabei um die Delta-Variante.In Ungarns Hauptstadt Budapest wurde nach dem Spiel der Franzosen gegen die Gastgeber der Fall einer positiv getesteten französischen Familie bekannt.

Sind Fußballspiele als Open-Air-Events nicht unbedenklich? 

Experten sind sich einig, dass die Wahrscheinlichkeit einer Corona-Infektion bei Veranstaltungen im Freien ziemlich gering ist, da frische Luft die Aerosole verdünnt - also die luftgetragenen Partikel, die beim Atmen und Sprechen entstehen und die das Virus tragen. 

William Schaffner, Professor für Infektionskrankheiten an der US-amerikanischen Vanderbilt University, erklärt, dass in diesem Sinne ein Stadionbesuch während der UEFA-Europameisterschaft nur ein sehr geringes Infektionsrisiko birgt - sofern Sicherheitsmaßnahmen wie die Begrenzung der Besucherzahl oder Mindestabstände eingehalten werden. 

Diese Maßnahmen sind allerdings von EM-Stadion zu EM-Stadion unterschiedlich. So wurde etwa das Budapester Stadion komplett gefüllt, aber Zuschauer brauchten einen PCR-Test, um eingelassen zu werden. Dagegen wurde das Glasgower Stadion Hampden Park nur zu 25 Prozent ausgelastet - aber für den Eintritt war kein Corona-Test notwendig. Auch der Stadionbesuch in St. Petersburg - wo die Corona-Infektionen zuletzt stark stiegen - ist ohne vorherigen Test möglich.

Laut Gerhard Scheuch lauern im Stadion vor allem außerhalb des zugewiesenen Platzes Gefahren: in den oft schlecht belüfteten Logen, Aufzügen und Toiletten. "Wenn da ein Infizierter seine Viren ausatmet, bleibt diese Wolke relativ lange stehen." 

Das Geschehen abseits des Stadions birgt die Gefahr: So sah es in Amsterdam vor dem Achtelfinale Wales - Dänemark ausBild: Evert Elzinga/ANP/Getty Images/AFP

Am Problematischsten ist aber laut Scheuch und auch laut Schaffner, was vor und nach dem Spiel passiert. Denn um die Spielorte zu erreichen und zu verlassen, benutzen Zehntausende Fans Busse, Bahnen und vielleicht sogar Flugzeuge. Sie übernachten in Hotels und wollen im Anschluss an das Spiel vielleicht noch in Bars feiern. 

Welche Rolle spielt das Masketragen im Stadion?

Eigentlich war Masketragen - genau wie ein Abstand von 1,5 Metern (mehr dazu siehe unten) - bislang in den EM-Stadien Pflicht. Der europäische Fußballverband UEFA weist Besucher durch Ordner und Stadionsprecher auf die Corona-Regeln hin. Je nach Austragungsort wurden sie aber nur teilweise bis so gut wie gar nicht befolgt. 

Immerhin, dieser Frankreich-Fan gibt sich Mühe - doch eigentlich gehört die Maske über die NaseBild: Frank Hoermann/SVEN SIMON/picture alliance

Was bedeutet die eher mangelhafte Maskendisziplin im Stadion? William Schaffner zufolge können Masken ein entscheidender Faktor bei der Verhinderung von Ausbrüchen sein: "Masken sind nicht perfekt. Aber sie bieten in Situationen wie im Stadion, wenn alle um einen herumschreien, einen gewissen Schutz."

Jüngste Erkenntnisse einer noch unveröffentlichten Studie, die der DW vorliegt, gehen in dieselbe Richtung. Laut den Wissenschaftlern des RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und der SDU University of Southern Denmark führten Spiele der Fußball-Bundesliga mit vielen Zuschauern zu einem deutlichen Anstieg der lokalen Neuinfektionen. Und zwar besonders dann, wenn die Masken lediglich auf den Wegen zum Sitzplatz getragen werden mussten, nicht aber im Fanblock. 

Umso größer ist das Unverständnis bei vielen, dass die Maskenregeln für die letzten vier EM-Spiele in London genau in diese Richtung gelockert wurden: Wenn man im Wembley-Stadion auf seinem Platz sitze, könne man seine Gesichtsbedeckung abnehmen, ist auf der UEFA-Seite seit dem 27. Juni nachzulesen. Wie zuerst die Sportschau berichtete, hat dies damit zu tun, dass die Partien Teil einer Studie zur Durchführung von Veranstaltungen sind, wie auch in diesem Regierungsdokument nachzulesen ist.

Nicht nur in Budapest, auch in Kopenhagen ist Masketragen und Abstandhalten augenscheinlich verpönt Bild: Grigory Dukor/TASS/dpa/picture alliance

Können die Abstandsregeln im Stadion eingehalten werden?

Schon die erste Hälfte der EM hat gezeigt, dass die vorgegebenen Mindestabstände in den Arenen nicht eingehalten werden. In Kopenhagen, München, Budapest und weiteren Austragungsorten standen, saßen und hüpften viele Fans dicht an dicht. Dabei wurden die maximalen Kapazitäten in vielen Stadien von der UEFA drastisch reduziert, damit Abstände eingehalten werden können. 

Es ist ein Versuch: Im Münchner Stadion fordern Ordner die Gäste auf, den Mindestabstand einzuhaltenBild: KAI PFAFFENBACH/REUTERS

Die absolute Ausnahme war bisher Budapest, wo nicht nur ein volles Stadion, sondern auch Fanmärsche mit bis zu 20.000 Teilnehmern nicht unterbunden wurden. In Kopenhagen war das Stadion nach UEFA-Angaben immerhin zu mehr als 70 Prozent gefüllt.

Bald sollen die Halbfinalspiele und das Endspiel im Londoner Wembley-Stadion mit einer Auslastung von bis zu 75 Prozent ausgetragen werden. Rechnerisch könnte dann nur jeder vierte Platz frei bleiben - zu wenig für einen Mindestabstand von 1,5 Metern. Dessen scheint sich auch die UEFA bewusst zu sein. Auf deren Seite ist bezüglich Abstand in Wembley nur noch zu lesen: "Halte Abstand zu anderen Fans, wo es nur geht." Vor wenigen Tagen war die Formulierung noch gewesen, man solle mindestens einen Meter Abstand halten

Kann die EURO 2020 die Ausbreitung der Delta-Variante beschleunigen? 

Dass in einigen Austragungsländern die Infektionszahlen wegen der Delta-Variante des Coronavirus wieder steigen - vor allem in Russland und in Großbritannien -, bereitet vielen Sorgen. Und ausgerechnet in London sollen die letzten drei Spiele der EM mit einer höheren Auslastung als zuvor stattfinden. 2500 UEFA-Offizielle, Medienschaffende und VIP-Gäste sollen das Endspiel nach dem Willen der UEFA sogar ohne eine Quarantäne nach der Einreise live erleben dürfen. Offiziell dürfen sie ihr Hotel aber nur zum Spiel verlassen.

Die angedachten Zuschauerzahlen finden viele Forschende und Politiker unverantwortlich, unter anderem Bundesinnenminister Horst Seehofer sowie der SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach:

Auch Aerosolforscher Scheuch bezeichnet Spiele unter Bedingungen wie in Großbritannien als "absurd": "Die Inzidenz ist dort einfach zu hoch, um solche Massenveranstaltungen sicher durchführen zu können."

Obwohl die EM die Infektionszahlen in den Regionen und Ländern der Spiele selbst in die Höhe treiben könne, hält Scheuch das Risiko, dass das Turnier die Verbreitung der Delta-Variante in Europa stark vorantreibt, für gering. Denn nur vergleichsweise wenige Besucher würden jeweils aus dem Ausland an- und wieder abreisen.

Party auf den Straßen: Bleibt zu hoffen, dass die EM-Fans kein unsichtbares Souvenir mitbringenBild: Wolfgang Rattay/REUTERS

Zudem ist die ansteckendere Delta-Variante dem Wissenschaftler zufolge so oder so bereits auf dem Vormarsch in Europa. Dass Delta auch unabhängig von der EM bald in anderen Ländern dominieren wird, glauben auch andere Experten. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) macht dennoch die Fußball-Europameisterschaft mitverantwortlich dafür, dass die Fallzahlen in Teilen Europas nun wieder zulegen. WHO-Expertin Catherine Smallwood sprach gegenüber Journalisten vom "Ende eines zehnwöchigen Rückgangs" bei den Corona-Infektionen in Europa. Die EM treibe diese Entwicklung voran, indem Menschenmassen nicht nur im Stadion, sondern auch in Kneipen und öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenkämen.

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