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KonflikteEuropa

Faktencheck: Hat die NATO Russland in den Krieg getrieben?

25. Juni 2025

Die NATO habe Russland getäuscht, missachtet und durch die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die Enge getrieben. So lautet eine der wichtigsten Begründungen des Kremls für seinen Angriff auf die Ukraine. Was ist dran?

DW Dokumentationen | Rukla - Momentan keine Feindsicht
NATO-Einheiten im Baltikum: Hat die NATO mit ihrer Osterweiterung Versprechen gegenüber der Sowjetunion gebrochen?Bild: New Docs

Die Staats- und Regierungschefs der NATO treffen sich in Den Haag, dem Sitz der Regierung der Niederlande,und es geht vornehmlich um die Erhöhung nationaler Verteidigungsausgaben und die Unterstützung der Ukraine gehen.

Anlass für beides ist der seit mehr als drei Jahren anhaltende Großangriff Russlands auf die Ukraine, verbunden mit dem Druck aus Washington zu stärkerer Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses.

Seit Jahren kursieren nun zur NATO einige falsche Behauptungen, und Narrativen. DW Faktencheck hat sich einige angeschaut. 

Hat die NATO ihre Versprechen gegenüber Russland gebrochen?

Der russische Präsident Wladimir Putin begründet den Angriff auf die Ukraine im Wesentlichen damit, dass  die NATO   seit Jahrzehnten eine wachsende Bedrohung für die Sicherheit Russlands darstelle.

Bereits in einem seiner ersten Interviews als russischer Präsident drückte Waldimir Putin gegenüber der BBC im März 2000 zwar seine Offenheit gegenüber der NATO aus, formulierte aber gleichzeitig Sorgen über die Osterweiterung der NATO, die damals bereits Polen, Tschechien und Ungarn einschloss. Beteuerungen der NATO und ihrer Mitgliedstaaten, dass das Bündnis rein defensiv ausgerichtet sei, genügen Putin nicht.

Sein Misstrauen hat er mehrfach mit einem angeblichen Vertrauensbruch der Westmächte begründet, der auf die Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag zurückgeht. Damit schrieben die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland 1990 unter Vermittlung der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs die Bedingungen für die deutsche Wiedervereinigung fest.

Laut Putin haben die westlichen Staaten der Sowjetunion damals versprochen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Die NATO bestreitet das.

Was soll die NATO der Sowjetunion versprochen haben?

Was genau damals versprochen wurde, wird seither höchst kontrovers diskutiert - unter Politikern und Laien wie unter Akademikern. Unstrittig ist, dass im Zwei-plus-vier-Vertrag lediglich steht, dass keine ausländischen Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürfen.

Daher gebe es "keine rechtlich bindenden Aussagen zur NATO-Osterweiterung oder zur Aufnahme anderer Mitglieder," heißt es beispielsweise beim Bundesverteidigungsministerium

Ebenso gut belegt sind jedoch zahlreiche Äußerungen westlicher Diplomaten, die Putins These stützen, darunter die "Nichtausdehnung der NATO (...) ganz generell" vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und die Formel "keinen Zoll nach Osten" von seinem US-Amtskollegen James Baker. Allerdings argumentieren einige Historiker, dass sie diese Zusicherung alsbald widerrufen hätten.

Andere machen geltend, dass sich diese Aussage lediglich auf Ostdeutschland bezogen haben könne - allein, weil sie dem im Westen propagierten Prinzips der "freien Bündniswahl" entgegenstünden.

Zu ihnen gehört Jim Townsend, der damals in der Abteilung für Europa- und NATO-Politik im US-Verteidigungsministerium arbeitete: "Es ging ausschließlich um Deutschland und die deutsche Wiedervereinigung," sagt er der DW.

Im Juli 1990 empfing Präsident Michail Gorbatschow den deutschen Kanzler Helmut Kohl und Außenministern Hans-Dietrich Genscher in Russland, um über die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO zu diskutieren.Bild: AP

Gorbatschow: 'Ein Verstoß gegen den Geist von 1990'

Als Kronzeuge für diese Auffassung wird auch der damalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow angeführt. In einem Interview 2014 soll er frühere Aussagen, in denen er die Formel "keinen Zoll nach Osten" betont hatte, mit den Worten widerrufen haben: "Das Thema 'NATO-Erweiterung' wurde überhaupt nicht diskutiert."

Diese Argumente überzeugen Joshua Shifrinson, Professor für Internationale Politik an der Universität Maryland, nicht. Der angebliche Widerruf von Gorbatschow sei aus dem Zusammenhang gerissen, erklärt er im Gespräch mit der DW. In demselben Interview sagt der Sowjetpräsident nämlich über die ab 1993 aufkommende Diskussion über die Aufnahme von Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts: "Ich habe dies von Anfang an als einen großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv ein Verstoß gegen den Geist der Erklärungen und Zusicherungen, die uns 1990 gegeben wurden."

Dagegen spreche auch die öffentliche Aussage von Manfred Wörner, NATO-Generalsekretär von 1988 bis 1994, im Mai 1990, die Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 zitierte: "Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien."

Wladimir Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: "Wo sind diese Garantien?"Bild: Matthias Schrader/picture alliance/dpa

Shifrinson hat etliche Quellen zu dem Thema ausgewertet, darunter das ehemals als geheim eingestufte Protokoll einer Sitzung der vier leitenden NATO-Diplomaten der USA, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Deutschlands von März 1991, über das auch das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtete.

'Wir können Polen keine Mitgliedschaft anbieten'

Laut dem Protokoll einer Sitzung der vier leitenden NATO-Diplomaten aus den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland sagte der deutsche Vertreter Jürgen Chrobog: "Wir haben deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können Polen und den anderen deshalb keine NATO-Mitgliedschaft anbieten."

Laut dem Dokument, von dem der DW Fotos vorliegen, widerspricht niemand. Der Franzose Raymond Seitz bestätigt sogar: "Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht - bei Zwei-plus-vier- wie auch anderen Gesprächen -, dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden."

Ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Vertrags sei dies unter führenden NATO-Diplomaten also Konsens gewesen, sagt Shifrinson: "Die Menschen machten sich durchaus Gedanken über die Zukunft Osteuropas im Allgemeinen."

Benjamin Friedman vom US-Thinktank "Defense Priorities" untersucht ebenfalls die Beziehungen zwischen Russland und NATO. Er meint: "Die Vereinigten Staaten haben wohl kein feierliches Versprechen abgegeben, dass wir die NATO niemals erweitern würden, aber wir haben den Russen sicherlich diesen Eindruck vermittelt, und ich glaube, das hat sie verärgert."

Hat die NATO Russland in den Krieg getrieben?

Bei aller Kontroverse um vermeintliche Zusicherungen, stellt Shifrinson klar: "Es ist unbestreitbar wahr, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist." Was ihm dabei nicht einleuchte: "Man kann anerkennen, dass Zusicherungen gegeben und später widerrufen wurden, ohne das russische Verhalten zu rechtfertigen."

Ganz ähnlich sieht es Friedman: "Es gibt einen Unterschied zwischen einer Aussage über Kausalität und einer Aussage über moralische Verantwortung." Russlands Einmarsch in die Ukraine sei moralisch verwerflich, aber: "Die Expansion beziehungsweise die Aussicht auf eine Expansion [der NATO] in die Ukraine war ein wichtiger Grund für den Krieg."

Auch für Townsend, der nach seiner Karriere in Pentagon und NATO zum Thinktank Atlantic Council wechselte, ist Russland eindeutig der Aggressor. "Wir waren immer sehr vorsichtig und haben ständig mit den Russen diskutiert, und sie haben uns damals grünes Licht gegeben."

Bis Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz "plötzlich ein Problem" äußerte, so Townsend. Etwaige Verfehlungen der NATO sieht er woanders: "Wenn die NATO irgendetwas getan hat, was die europäische Sicherheitsarchitektur destabilisiert hat, dann, dass sie nicht stark genug ist."

Transparenz-Hinweis:
In einer früheren Version des Artikels wurde Den Haag als Hauptstadt der Niederlande bezeichnet. Wir haben den Fehler korrigiert.

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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