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KonflikteEuropa

Kiew: Keine "Inszenierung" von zivilen Opfern

17. Oktober 2022

Nach den Raketen folgt die Propaganda: Verwundete in Kiew seien tatsächlich nur Schauspieler, die das Leid inszenieren würden, behaupten pro-russische Stimmen im Netz. Ein DW-Faktencheck zeigt: Das Leid ist echt.

Ukraine-Krieg: Eine verletzte Frau wird nach einem Luftangriff auf Kiew von einem Freiwilligen medizinisch versorgt (Foto: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance)
Keine Inszenierung: Ein Freiwilliger versorgt eine Ukrainerin nach einem Raketenangriff auf Kiew am 10. Oktober Bild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

Russland setzt seine Angriffe auf Kiew fort. Nach einer Phase der relativen Ruhe ist der Krieg in den letzten Tagen in die ukrainische Hauptstadt zurückgekehrt. Besonders intensiv waren die Bombardements am 10. Oktober, dem Tag mit den heftigsten russischen Angriffen seit der Invasion Russlands. Nach offiziellen Angaben sind dadurch in Kiew und weiteren Regionen 19 Menschen ums Leben gekommen, 105 Personen wurden verletzt. Allein in Kiew wurden an jenem Tag 43 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert, so Bürgermeister Vitali Klitschko. Die Bilder von blutüberströmten zivilen Opfern der Angriffe wurden von vielen Medien veröffentlicht und gingen um die Welt. Nun wird in den Sozialen Medien ein Video verbreitet, dass die Echtheit der Bilder aus Kiew in Frage stellt.

Behauptung: "Eine Produktion von dramatischen Bildern für westliche Medien", schreibt Maria Dubovikova auf Twitter, die sich als russische Medienexpertin ausgibt. Und ein weiterer Nutzer kommentiert"Freche Schauspieler werden für westliche Medien gefilmt, um 'blutige' Bilder zu zeigen." Dabei posten beide ein Video, auf dem eine offenbar verwundete Frau mit einem Kopfverband ein Selfie von sich macht. Zahlreiche weitere Accounts wiederholen die Behauptung und schreiben von einer "Inszenierung" für westliche Medien.

DW-Faktencheck: Falsch.

Das 14-sekündige Video, das allein auf Twitter mehr als 50.000 Mal angesehen wurde und sich unter anderem auch auf Spanisch auf Telegram und auf Deutsch auf Facebook verbreitete, zeigt keine "Inszenierung" durch Schauspieler, sondern tatsächlich verwundete Zivilisten in Kiew. Auf dem Foto im oberen Teil des Videos wird eine Frau gezeigt, die einen Verband um den Kopf trägt und deren Oberteil einen Blutfleck aufweist. Rechts neben der Frau stehen weitere Menschen, darunter ein Mann, der ebenfalls einen Kopfverband trägt und ein blutverschmiertes Gesicht hat. In der gezeigten Sequenz sagt die Frau auf Ukrainisch: "Fotografieren Sie mich, Andrej Andrejitsch! Gleich fotografiere ich mich und schicke das Bild meiner Schwester nach Russland".

Mittels einer Rückwärtssuche des im oberen Teil abgebildeten Fotos fanden wir heraus, dass es sich um ein Foto von Associated Press handelt. Das Foto zeigt laut der Agentur Verwundete nach dem russischen Angriff am 10. Oktober 2022 und wurde vom Kiewer AP-Korrespondenten Efrem Lukatsky aufgenommen. Lukatsky veröffentlichte das Bild auch auf seinem Facebook-Account.

Videos und Fotos dokumentieren Folgen des russischen Angriffs 

Das Faktencheck-Team der DW kontaktierte Efrem Lukatskyi und fragte nach de Entstehung des Bildes. Dabei bestätigte Lukatsky, dass sowohl das Bild als auch das Video von ihm gemacht worden sind. Im DW-Gespräch beschrieb der Fotograf wie er am 10. Oktober um 8:19 Uhr Ortszeit mit seinem Kollegen von Reuters zuerst zum Ort des ersten Raketeneinschlags an der Schewtschenko-Universität fuhr und anschließend den ukrainischen Journalisten zum Ort eines weiteren Raketeneinschlags auf der Kreuzung von Zhylianska und Lva Tolstogo folgte. An letzterem Ort entstanden Fotos und Video der verwundeten Zivilisten. Lukatskys Reuters Kollege Vladyslav Musiienko fotografierte die Verwundeten ebenfalls, wie in diesem "NZZ"-Beitrag zu sehen.

"Bei der Ankunft sahen wir Menschen an einer Wand stehen, denen Hilfe geleistet wurde. Sie wurden durch Ärzte und auch Militärleute medizinisch versorgt. Diese Szene haben wir als erstes gedreht. Neben mir gab es noch einige Journalisten mit Kameras. Insgesamt würde ich sagen bis zu zehn Leute", so Lukatsky. Er selber hätte zusätzlich zu den Fotos mit der anderen Hand ein Handyvideo gedreht, sagt der ukrainische Fotograf. Aus diesem Video, das der DW in voller Länge von 33 Sekunden vorliegt, stammen auch die 14 Sekunden im geposteten Twitter-Video. Im Originalvideo hört man, wie sich die verwundete Frau über die Kopfschmerzen beschwert. Kurz vor der ausgeschnittenen Szene und nach dem Schwenk am Ende sind noch weitere offensichtlich verwundete Menschen sowie mehrere Rettungsdienst- und Krankenwagen zu sehen. Sie erlitten durch umherfliegende Glasscherben eines Hochhauses Verletzungen, so Lukatsky, der als Kriegsreporter bereits in Afghanistan, Irak, Gaza und Tschetschenien gearbeitet hat.

Per Google Street View (rechts) lässt sich der Ort des Geschehens im Video (links) verifzieren: Das Video entstand nahe des 101 Towers in KiewBild: AP/Google Street View

Wir konnten den Ort des Geschehens lokalisieren: Beim im weiteren Verlauf des Videos erkennbaren Hochhaus handelt es sich tatsächlich um den Kiewer Wolkenkratzer Business Center 101 Tower, dessen Glasverkleidung durch den Luftangriff auf das benachbarte Heizkraftwerk massiv beschädigt wurde, wie mehrere Videos im Netz zeigen

Der Sprecher des Auswärtigen Amtes von Deutschland, Christian Wagner, bestätigtebei der Bundespressekonferenz am 10. Oktober, dass "es offensichtlich Beschädigungen an dem 101 Tower in Kiew gab, in dem auch die deutsche Visastelle untergebracht ist". 

Echte Verletzungen

Noch in der gleichen Woche, als die Raketenangriffe auf Kiew stattfanden, veröffentlichte der ukrainische Sender "1+1" einen Beitrag, in dem man mehr zu der Frau im angeblich inszenierten Video erfahren kann. Die ukrainischen Journalisten besuchten sie in einem der Kiewer Krankenhäuser. Sie heißt Oleksandra Kyselyova und schildert ausführlich, wie sie am 10. Oktober auf dem Weg von ihrer Arbeitsstelle zum Schutzraum verletzt wurde. Tatsächlich sieht man noch mehrere Verletzungen in ihrem Gesicht, die zum Teil genäht werden mussten. Im Interview betont sie, die Welt sollte sehen, was Russland den Zivilisten in der Ukraine antut. Am meisten möchte sie, dass Ihre Schwester in Russland ihr verletztes Gesicht sieht und ihr so glaube. Von der Schwester hat Oleksandra Kyselyova auch in dem angeblich inszenierten Video gesprochen. 

Gezeichnet: Oleksandra Kyselyova, Verwundete beim Raketenanschlag am 10. Oktober in Kiew, im Interview mit dem ukrainischen Fernsehsender 1+1.Bild: TSN/1+1/YouTube

Die ukrainischen Journalisten fanden auch den jungen Mann in der Militäruniform, der Oleksandra erste Hilfe im Video leistete. Oleksandr Myroshnichenko ist ein 19-jähriger Student der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kiew, der als Freiwilliger am 10. Oktober die Verletzten in Kiew behandelte. Myroshnichenko trägt das Abzeichen der medizinischen Evakuierungseinheit "Puls" auf seiner Uniform. 

Auf dem Instagram-Account der "Puls"-Einheit findet man eine Story vom 10. Oktober, in der Oleksandr Myroshnichenko zu sehen ist. "Unser Bruder @aamyros rettete heute 8 Leben in Kiew", lautet die Unterschrift zum Bild, auf dem Myroshnichenko (sein Name steht auf der Uniform) scheinbar erschöpft auf dem Boden sitzt. Auch die Szene, in der Myroshnichenko der Kyselyova einen Verband anbringt, ist in der Story zu sehen. Einige Bildervon vor Ort postete Myroshnichenko auch auf seinem Instagram-Account.

Derselben Insatagram-Story kann man entnehmen, dass Oleksandr Myroshnichenko am 10. Oktober in einer TV-Schalte mit BBC über die russischen Raketenangriffe berichtete. Dabei erklärt er wie er sich nach der ersten Explosion spontan mit anderen Freunden auf den Weg ins Zentrum der Stadt gemacht habe, um den Menschen zu helfen. 

Fazit: Die Behauptung, bei den zivilen Opfern des Luftangriffs auf Kiew vom 10. Oktober handle es sich um Schauspieler, ist falsch. Der Raketenangriff nahe des 101 Towers fand nachweislich statt und die Verwundungen der Passanten nahe des Einschlags wurden von mehreren internationalen Journalisten dokumentiert. 

Wie man Russlands Propaganda durchschaut

07:36

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