Faktencheck: Will die EU private Ersparnisse "stehlen"?
27. März 2025
Vergangene Woche war einiges los in Brüssel. Zwei EU-Initiativen haben für besonders viel Aufregung gesorgt – und hitzige Diskussionen in den sozialen Netzwerken befeuert. Zum einen hat die Europäische Kommissionen das Weißbuch "Bereitschaft 2030"
vorgestellt. Die Initiative soll den Mitgliedsländern erlauben, mehr und schneller in ihre Verteidigung zu investieren. Zum anderen hat die Kommission ihre Strategie für eine Spar- und Investitionsunion präsentiert. Diese soll mehr Anreize für Investitionen schaffen. So können etwa europaweite Fonds aufgelegt werden, um es Bürgern leichter zu machen, ihr Geld in verschiedenen Bereichen anzulegen, wie etwa Umwelt, Digitales aber auch in Verteidigung.
Behauptung: In den sozialen Medien kursieren vermehrt Behauptungen, die die neuen EU-Pläne als Gefahr für die privaten Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger in Europa sehen. So schreibt dieser User auf X: "Die Europäische Kommission plant, 10 Billionen Euro aus den Ersparnissen der Bürger für die EU-Verteidigung zu nehmen. Das ist wirtschaftlicher Selbstmord. Heb' dein Geld bei den europäischen Banken ab. Sonst werden sie dein Geld von deinem Bankkonto nehmen." X-Posts mit identischem Wording wurden auch von anderen Usern verbreitet (Bsp. 1, Bsp. 2)
Auch auf YouTube und Telegram kursieren Videos (Bsp. 1, Bsp. 2) mit bedrohlich klingenden Botschaften: "Die EU greift nach unserem Ersparten! Unter dem Deckmantel der "Verteidigung" sollen Milliarden privater Gelder in die Rüstungsindustrie fließen. Demokratie war gestern – jetzt bestimmen Brüssel und Ursula von der Leyen, was mit unserem Geld passiert. Zwangsinvestitionen für den Krieg?"
DW Faktencheck: Falsch
Hat die EU direkten Zugriff auf das private Vermögen der Sparer?
Die Spar- und Investitionsunion, die am 19. März vorgestellt wurde, ist die Neuauflage einer Vision namens Kapitalmarktunion, über die schon seit vielen Jahren geredet wird. "Es ist der Versuch, einen einheitlichen Kapitalmarkt für Europa zu schaffen, Gesetze zu harmonisieren, Grenzen abzubauen und gemeinsame europäische Investitionsmöglichkeiten für Investoren zu schaffen", sagt Florian Heider, wissenschaftlicher Direktor am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung in Frankfurt am Main.
"Wir haben einen großen Investitionsbedarf in Europa, der nicht nur vom Staat gedeckt werden kann, sondern wir brauchen auch Privatinvestitionen", sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank. "Wir haben viel Spargeld in Europa, das zu einem geringen Zins auf Sparkonten bei den Banken liegt und die Frage ist: Kann man nicht dieses schlafende Bargeld für mehr realwirtschaftliche Investitionen einsetzen."
Laut der EU liegen in Europa rund zehn Billionen Euro auf normalen Bankkonten. Die EU will daher Anreize schaffen, dass Bürger und Bürgerinnen ihre Ersparnisse an den Kapitalmärkten anlegen, zum Beispiel zur Absicherung der Altersvorsorge. Auf der anderen Seite sollen kleine und mittlere Unternehmen einen einfacheren Zugang zu Kapital auf europäischer Ebene kriegen. Was als Angebot gedacht ist, verstehen einige User auf den sozialen Medien jedoch als eine Form der Enteignung. Was ist dran?
"Das Geld gehört Ihnen. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie der Staat an das Geld der Bürger kommt und das geht über Steuern", sagt Florian Heider. Er sieht den Vorstoß der EU als Versuch, mehr Transparenz und Verständnis für die Finanzmärkte zu schaffen: "Was die Bank mit ihrem Geld auf dem Sparbuchkonto macht, wissen sie ja auch nicht. Sie wissen zum Beispiel nicht, an welche Firmen ihre Bank Geld leiht. Wenn sie jetzt auf dem Kapitalmarkt investieren, dann können sie sich selber aussuchen, wo sie genau anlegen wollen. Die EU will ihnen damit mehr Handlungsspielraum geben, das ist genau das Gegenteil von Enteignung."
Kann die EU das Geld der Sparer in Rüstung investieren?
Ein weiterer Vorwurf ist, dass die EU das Vermögen der Sparer ohne ihr Wissen in Rüstung investieren würde. Viele X-Posts beziehen sich auf eine Meldung der russischen Nachrichtenagentur TASS - und verbreiten Ausschnitte davon in den sozialen Medien. In der Originalmeldung vom 5. März 2025 heißt es direkt am Anfang: "Die Europäische Kommission schätzt das Gesamtvolumen der ungenutzten Ersparnisse der EU-Bürger auf 10 Billionen Euro, und sie will Wege finden, dieses Geld zu mobilisieren, um ihre Pläne zur Militarisierung Europas und zur Unterstützung des europäischen militärisch-industriellen Komplexes zu finanzieren."
Hier wird suggeriert, dass die neue Spar- und Investitionsunion der EU das Ziel hat, das Geld der Sparer, ohne deren Einverständnis und Wissen, für militärische Zwecke zu nutzen. "Das ist ein klares Beispiel für russische Informationsmanipulation. Die EU-Bürgerinnen und -Bürger genießen die absolute Freiheit, auf der Grundlage ihrer persönlichen Entscheidungen zu investieren: Sie werden immer die volle Kontrolle darüber haben, wo sie ihr Geld aufbewahren und zuweisen wollen", so EU-Pressesprecher Olof Gill auf eine DW-Anfrage.
Kurzum: Wer in Rüstung investieren möchte, kann dies tun. "Niemand kann aber die Sparer zwingen, mit ihrem Geld etwas anderes zu machen, als sie wollen", so Carsten Brzeski.
Ängste schüren durch Drohszenarien
Einige Claims, die wir auf den sozialen Netzwerken gefunden haben, plädieren sogar für den Abzug des eigenen Kapitals aus der EU (s. Artikelbild). Für den wissenschaftlichen Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung, Florian Heider, sind solche Claims eine gezielte Desinformation: "Dahinter steckt das Bestreben, Europa zu schwächen. Denn, wenn das Geld nicht in Europa ist, dann kommt es anderen Ländern zugute und nicht Europa. Natürlich kann man in Drittländer investieren. Der Vorteil vom Euroraum ist, dass dieser rechtssicher ist, es gibt Einlagensicherungen und sie haben kein Wechselkursrisiko."
Diese Vorteile werden auch von ausländischen Investoren gesehen und es fließt aktuell Geld in die europäischen Märkte: "Wir beobachten einen Trend, der genau andersrum verläuft. Es kommt Kapital aus den USA nach Europa, das ist der Grund, wieso die europäischen Börsen in den letzten 2-3 Wochen so gut geliefert haben. Viele Investoren haben umgeschichtet – aus den USA heraus nach Europa", beobachtet Carsten Brzeski.
Auf Basis der geltenden Rechtsordnung hat die EU keinen Zugriff auf private Sparbücher. Im Gegenteil: Es gibt mehrere EU-Vorschriften, die die Ersparnisse der Bürger schützen sollen. Ein Beispiel ist etwa das Einlagensicherungssystem, das Anleger im Falle eines Bankausfalls entschädigt.
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