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KonflikteNahost

Faktencheck: Netanjahus Desinformation über Hunger in Gaza

1. August 2025

Israels Premier Benjamin Netanjahu behauptet, dass es im Gazastreifen keine Hungersnot gebe - doch internationale Hilfsorganisationen und Augenzeugen zeichnen ein anderes Bild. Die DW schlüsselt die Fakten auf.

Palästinensische Gebiete Gaza-Stadt 2025 | Palästinenser warten auf Essensausgabe . Menschen halten leere Pfannen und Töpfe nach oben
Verzweiflung: Im Gazastreifen warten Menschen in einer Schlange auf die Verteilung von Nahrungsmitteln. Viele Menschen bekommen tagelang nichts zu EssenBild: Dawoud Abu Alkas/REUTERS

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bestreitet, dass die Menschen im Gazastreifen hungern. "Es gibt keine Hungersnot in Gaza, keine Politik der Aushungerung in Gaza", sagte Netanjahu kürzlich während einer Veranstaltung mit Daystar, einem evangelikalen Fernsehsender, in Jerusalem.

Netanjahus Äußerungen widersprechen den Beobachtungen internationaler Hilfsorganisationen sowie den Berichten von Augenzeugen, die belegen, dass insbesondere im Norden des Gazastreifens eine akute Hungersnot herrscht.

DW-Faktencheck hat die Aussagen überprüft.

Hilfsorganisationen schlagen Alarm

Laut IPC Skala(Integrated Food Security Phase Classification) wurde in Teilen des Gazastreifens - insbesondere in Gaza-Stadt - die Schwelle zur Hungersnot überschritten. Das "Worst-Case-Szenario" sei eingetreten.

Das von der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO 2004 entwickelte Instrument klassifiziert das Ausmaß von Unterernährung und Hunger und wird von den meisten Hilfsorganisationen genutzt.

Laut Weltgesundheitsorganisation WHOist mittlerweile eins von fünf Kindern im Gazastreifen unterernährt. Von den 74 Todesfällen seit Jahresbeginn, die auf Unterernährung zurückzuführen sind, wurden 63 allein im Monat Juli registriert, darunter 24 Kinder im Alter von unter fünf Jahren.

Unterdessen berichten Helfer vor Ort, dass sie selbst hungern. Das Gesundheitsministerium von Gaza gibt an, dass in den letzten drei Wochen Dutzende Menschen an den Folgen von Hunger gestorben seien.

Angesichts des wachsenden internationalen Drucks erklärte der britische Premierminister Keir Starmer, er werde im September bei der UN-Generalversammlung einen palästinensischen Staat offiziell anerkennen, sofern Israel keine "substanziellen Schritte unternimmt, um die entsetzliche Situation in Gaza zu beenden".

"Fälschung und Manipulation"

Israelische Beamte, darunter auch der Sprecher des Außenministeriums, Oren Mamorstein, haben jedoch die von den Gesundheitsbehörden Gazas und UN-Organisationen veröffentlichten Zahlen zu Unterernährung und Hunger zurückgewiesen.

Die Zahlen seien nicht glaubwürdig, weil sie in einigen Fällen von der Hamas stammten. Die Hamas wird von vielen Ländern inklusive Deutschland als Terrororganisation eingestuft.

Auch bei den Angaben zu Kriegstoten werden dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza und der UN von israelischer Seite "Manipulation und Fälschung vorgeworfen". Die Opferzahlen seien zu hoch

Doch nach einer neuen Studie der Universität London fallen die Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza um 40 Prozent geringer aus als die jüngsten Erhebungen der Universität London. 

Auf der Suche nach humanitärer Hilfe durchqueren Tausende Menschen in Gaza den Netzarim-KorridorBild: Hassan Jedi/Anadolu/picture alliance

"Sie geben der Hamas die Schuld"

Die Hungerkrise im Gazastreifen wurde durch die erneute israelische Blockade sämtlicher humanitärer Hilfslieferungen in das Palästinensergebiet Anfang März dieses Jahres verschärft. Bereits damals warnten Hilfsorganisationen wiederholt vor einer Hungerkatastrophe. 

Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hatte bereits im August 2024 für internationale Empörunggesorgt, als er erklärte, dass die Blockade humanitärer Hilfe für den Gazastreifen "gerechtfertigt und moralisch vertretbar" sei, selbst wenn dadurch zwei Millionen Zivilisten verhungern würden. 

Israels Premier Netanjahu ist somit nicht der Einzige, der die Hungersnot in Gaza billigt oder leugnet. Seine oder ähnliche Äußerungen werden in den sozialen Medien und auf zahlreichen Onlineportalen weiter verbreitet. In den Posts wird die Krise heruntergespielt oder behauptet, Berichte über die Hungersnot seien erfunden.

"Das ist die offizielle Linie, die vom Premierminister, seinem Kabinett und den rechtsextremen Medien wiederholt wird", sagte Oren Persico vom unabhängigen israelischen Medium The Seventh Eye gegenüber der DW.

"Sie leugnen entweder, dass eine Hungersnot herrscht, sie geben der Hamas die Schuld dafür, dass sie sich nicht ergibt, oder behaupten sogar, dass dies eine gute Sache sei - weil es angeblich den Weg für den Bau jüdischer Siedlungen in Gaza ebnet."

Das Bild mit dem ausgemergelten Jungen aus Gaza ging viral. Viele Kommentare gingen davon aus, dass die genetische Erkrankung des Jungen dafür "missbraucht" wurde, um eine Hungersnot in Gaza zu belegen, die es so nicht gebe.Bild: X

"Genetische Muskelerkrankung"

In den Sozialen Medien zweifeln vielen Nutzerinnen und Nutzer die Fotos von stark abgemagerten Kindern in Gaza an und behaupten, sie seien irreführend oder aus dem Zusammenhang gerissen. Dazu gehört auch die Aufnahme des palästinensischen Jungen Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq, die von mehreren internationalen Nachrichtenagenturen verbreitet wurde und viral ging (siehe Screenshot).

Pro-israelische Kommentatoren sowie das israelische Außenministerium behaupteten, der Junge habe eine seltene genetische Muskelerkrankung. Diese Information sei nicht erwähnt worden. Es sei deshalb ein Versuch, Israel zu diffamieren.

In der Tat wurde in einigen Beiträgen und Berichten auf diese Zusatzinformation verzichtet. Einige Medien wie CNNoder die New York Times hatten allerdings darauf hingewiesen, dass der Junge zusätzlich zu einer bereits bestehenden Erkrankung an Unterernährung litt.

Dort heißt es: "Er leidet an einer Muskelerkrankung, die Physiotherapie und spezielle Ernährung erfordert, und er ist aufgrund der sich verschlechternden humanitären Lage durch die anhaltenden israelischen Angriffe und die Blockade von lebensbedrohlicher Unterernährung bedroht."

Dennoch kursieren im Netz weiterhin zahlreiche Berichte, in denen behauptet wird, dass solche Fotos missbraucht würden, um den Eindruck zu erwecken, in Gaza herrsche Hunger, was nicht der Fall sei.

In dem weit verbreiteten Post auf X (siehe oben) heißt es: "Ein Junge aus Gaza mit einer seltenen Muskelerkrankung wird dazu 'missbraucht', um eine falsche Kampagne über Hungersnot in Gaza zu unterstützen."

Suppenküchen in Gaza gehen die Lebensmittel aus

03:35

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Bei der Recherche im Netz ist DW-Faktencheck auf Dutzende fast identische Posts mit demselben Wortlaut und demselben Bild gestoßen.

DW-Faktchecking legte die Aufnahme des Jungen mehreren Kinderärzten in Deutschland vor, um die Behauptungen über die Muskelerkrankung des Kindes zu überprüfen. Sie stellten fest, dass die genaue Erkrankung allein anhand von Fotos und Videos nicht diagnostiziert werden kann.

"Vorerkrankung schließt Unterernährung nicht aus"

Sie betonten jedoch, dass eine Vorerkrankung die Anzeichen von Unterernährung nicht ausschließt, und dass die alleinige Zuordnung aller Anzeichen von Auszehrung auf genetische Störungen die weitreichenden Auswirkungen einer anhaltenden Mangelernährung außer Acht ließe.

Für Oren Persico von The Seventh Eye sind die Anschuldigungen der israelischen Regierung Teil einer politischen Strategie. "Eine der verwendeten Taktiken besteht darin, nicht repräsentative Beispiele hervorzuheben und diese als Beweis dafür zu präsentieren, dass es in Gaza kein menschliches Leid gibt," erklärt er.

"Das ist wie bei Verschwörungstheorien, die sich auf irrelevante Details konzentrieren, um das Gesamtbild zu verzerren. In diesem Sinne würde ich es als Desinformationskampagne bezeichnen - eine, die sich einzelne Randfakten herauspickt, um die überwältigende Beweislage, einschließlich Augenzeugenberichten, Daten und Berichten, zu leugnen."

Frische Lebensmittel auf einem Markt in Gaza?

Eine ähnliche Darstellung tauchte im Zusammenhang mit einem Video auf, das unter anderem von der Jerusalem Post veröffentlicht wurde und eine Nahaufnahme eines Gemüsestandes auf einem Markt in Gazazeigt. Das Filmmaterial ging im Netz viral und wurde von Accounts verwendet, die Berichte über eine Hungersnot in dem Gebiet anzweifeln.

"…Das ist eine Aufnahme von heute vom Al-Sahaba-Markt in Gaza-Stadt, der komplett mit Lebensmitteln gefüllt ist. So viel zum Thema Hungersnot. Der durchschnittliche Bewohner Gazas isst besser als Sie!", schreibt ein User.

DW Faktencheck hat mit dem Journalisten Majdi Fathi gesprochen, der das Video gedreht hat. Er bestätigte, dass das Filmmaterial authentisch ist und einen Markt in Gaza zeigt.

Er fügte jedoch hinzu, dass dies nicht bedeutet, dass Lebensmittel für alle verfügbar seien. "Dieses Obst und Gemüse ist sehr teuer", sagte Fathi. "Die Mehrheit der Menschen in Gaza kann es sich nicht leisten."

Auf seinem Instagram-Accountteilt er weitere Videos über die Krise in Gaza. "Was in Gaza fehlt, sind andere Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Reis und Eier. Ich habe nichts anderes gefunden, was ich auf dem Markt hätte filmen können." 

Dieses Video von einem Markt in Gaza wurde von vielen Usern geteilt. Einige betrachteten es als Beweis dafür, dass die Meldungen über eine Hungersnot in Gaza falsch seien.Bild: X

Israels jüngste Entscheidung, mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen hereinzulassen, hat die Preise für Lebensmittel in einigen Gebieten leicht gesenkt. Die Auswirkungen bleiben jedoch bisher begrenzt.

Israelische Beamte haben wiederholt behauptet, dass die Hamas für den Diebstahl dieser Hilfsgüter verantwortlich sei. Die New York Times berichtetjedoch, dass israelische Militärbeamte bestätigt hätten, es gebe keine Beweise für diese Anschuldigung.

Israels Außenministerium erklärte unterdessen auf X, dass im Gazastreifen eine "der weltweit größten humanitären Hilfsaktionen" begonnen habe. Es gebe "keinerlei Einschränkungen".

Hilfsorganisationen bezeichnen diese Bemühungen jedoch als unzureichend und in einigen Fällen als gefährlich für die Zivilbevölkerung vor Ort, die die Hilfsgüter abholt.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.