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GesellschaftNordamerika

Stoppt ein Verbot wirklich Abtreibungen?

Kathrin Wesolowski | Sinem Özdemir
30. Juni 2022

Seit in den USA das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gekippt wurde, wird im Netz heftig über Schwangerschaftsabbrüche gestritten. Aber welche Behauptungen von Gegnern und Befürwortern stimmen? Ein Faktencheck.

USA | Proteste gegen Änderung Abtreibungsgesetz
Tausende von Frauen protestieren gegen die Entscheidung des Supreme Courts in den USABild: Michael Brochstein/ZUMAPRESS/picture alliance

Abtreibung zählt zu den Gesundheitsthemen, über die derzeit wohl die meisten Falschinformationen kursieren. Zu diesem Schluss kommen Forscher des American Journal of Public Health in einer Studie aus dem Jahr 2021. Seitdem hat sich die Debatte noch einmal zugespitzt: Sowohl Abtreibungsgegner als auch -befürworter diskutieren leidenschaftlich und spätestens seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs in den USA, das das liberale Abtreibungsrecht im Land kippte - auch aggressiv und zum Teil mit falschen Argumenten. Wir haben vier Behauptungen aus beiden Lagern der Abtreibungsdebatte überprüft. 

Stoppt ein Verbot wirklich Schwangerschaftsabbrüche?

Behauptung: Ein Abtreibungsverbot verhindere keine Schwangerschaftsabbrüche, sondern führe zu unsicheren, teils lebensgefährlichen Abtreibungen, erklären zahlreiche Befürworterinnen der Legalisierung von Abtreibungen: "Das Abtreibungsverbot stoppt nicht Abtreibung, sondern nur sichere Abtreibung", sagt beispielsweise eine Nutzern auf TikTok(hier archiviert).   

DW-Faktencheck: Richtig.

Ein britisches Forscherteam, das Daten von 1990 bis 2019 auswertete, kam zu dem Ergebnis, dass die Abtreibungsraten in Ländern mit Abtreibungsverboten etwa gleich hoch waren wie in Ländern, in denen Abtreibung erlaubt ist. Ein Verbot führt diesen Daten zufolge nicht zu einem Ausbleiben von Schwangerschaftsabbrüchen.   

Die Forscher werteten Zahlen aus 166 Ländern aus. Weltweit werde etwa jede zweite ungewollte Schwangerschaft abgebrochen, ausgenommen davon sind Indien und China. In den Ländern, in denen Abtreibung eingeschränkt sei, steige die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen sogar.  

 

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind 45 Prozent der Abtreibungen weltweit unsichere Abtreibungen. Dabei handelt es sich um Abbrüche, die unter anderem ohne Beratung stattfinden, von ungelernten Menschen oder fehlerhaft beziehungsweise unhygienisch durchgeführt werden. Gerade in Ländern, in denen Abtreibung verboten sei, würden sich Frauen, die ungewollt schwanger sind, auch für gesundheitsgefährdende Schwangerschaftsabbrüche entscheiden. 

Ein Mangel an sicherer und respektvoller Abtreibungsbehandlung und die mit Abtreibung verbundene Stigmatisierung gefährdet laut der WHO das körperliche und geistige Wohlbefinden von Frauen in ihrem gesamten Leben. 4,7 bis 13,2 Prozent der Sterblichkeit von Müttern weltweit gehen auf unsichere Abtreibungen zurück. In entwickelten Regionen sterben statistisch 30 von 100.000 Frauen wegen unsicherer Abtreibung, in Entwicklungsregionen 220 von 100.000, die Abtreibungen durchführen. Schätzungsweise wurden 2012 allein in Entwicklungsländern sieben Millionen Frauen in Krankenhäusern behandelt, nachdem sie durch unsichere Abtreibungen Komplikationen erlitten. 

Gibt es tatsächlich "keine sicheren Abtreibungen"?

Behauptung: Abtreibungsgegner und Unterstützer der sogenannten "Pro-Life"-Bewegung behaupten häufig, dass jede Art von Schwangerschaftsabbruch die Gesundheit von Frauen gefährde. Die Anti-Abtreibungsorganisation "Live action" behauptet konkret: "Es gibt keine sichere Abtreibung." (hier archiviert)

DW-Faktencheck: Falsch.

Es gibt zwei Arten von legalen Abtreibungen - bei der einen nimmt die Schwangere eine Pille ein, bei der anderen, wird die Schwangerschaft im Krankenhaus operativ abgebrochen. Laut der Amerikanischen Hochschule für Geburtshelfer und Gynäkologen (ACOG) ist Abtreibung ein gängiges medizinisches Verfahren, dass "sehr sicher" ist. Die Organisation weist daraufhin, dass große Komplikationen bei Schwangerschaftsabbrüchen eine Seltenheit sind und nur bei 0,23 bis 0,5 Prozent der legalen Abtreibungen vorkommen - unabhängig vom Alter der Schwangeren oder von der Art der Abtreibung. Das bestätigt auch Alicia Baier, Ärztin und Mitgründerin der Organisation "Doctors for Choice Germany". Auf Anfrage der DW bestätigte die Ärztin, dass Komplikationen bei Abtreibungen mit einer Pille extrem selten seien. Weiter erklärte sie, dass die Abtreibungspille weltweit immer häufiger eingesetzt werde und auch helfe, die Müttersterblichkeit durch unsichere Abtreibungen zu senken.

Auf DW-Anfrage schrieb Helena Lüer von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen", dass die Abtreibungspille zu 95 Prozent wirksam und "extrem sicher" sei. "Das Risiko bei einer sicheren Abtreibung zu sterben, ist geringer als durch einen Schuss Penicillin oder eine Zahnentfernung", erklärte Lüer. Auch Daten von den US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zeigen, dass die Sterblichkeitsrate unter Frauen in den USA durch Abtreibungen sehr gering ist. In den Jahren 2013 bis 2018 lag sie statistisch bei weniger als einer Frau (genauer: 0,41) von 100.000, die eine Abtreibung vornahmen.

Abtreibung in Europa - verachtet, verheimlicht, verboten

42:36

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Auf Anfrage teilte Awa Naghipour, Ärztin und Mitgründerin der Nichtregierungsorganisation "Feministische Medizin" der DW mit, dass es bei medizinischen und chirurgischen Abtreibungen zwar gewisse Risiken gebe. Die häufigsten Komplikationen bei der Abtreibung mit einer Pille seien längere Blutungen, Krämpfe und Schmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Bei Abtreibungen im Krankenhaus könnte auch der Uterus oder nahe Organe beschädigt werden. Dennoch seien die Risiken in Regionen, in denen Abtreibung verboten oder stark eingeschränkt sei, viel höher. "Je offener, leichter zugänglich, medizinisch überwachter und standardisierter der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch ist, desto sicherer wird er", so Naghipour. 

Laut dem Population Reference Bureau, einer US-amerikanischen NGO, gelten in Ländern, in denen der Zugang zu Abtreibungen verboten oder eingeschränkt ist, nur eine von vier Abtreibungen als sicher. In Ländern, in denen Abtreibung dagegen legal ist, gelten neun von zehn Schwangerschaftsabbrüchen als sicher.   

Unterstützen die meisten Amerikaner strenge Abtreibungsgesetze?

Behauptung: Abtreibungsgegner in den USA behaupten, dass trotz der jüngsten Proteste die meisten Amerikaner eine starke gesetzliche Beschränkung von Schwangerschaftsabbrüchen befürworten würden. "71 Prozent der Amerikaner unterstützen die gesetzliche Einschränkung von Abtreibung", behauptet die christliche Organisation "Focus on the Family" auf ihrer Webseite (hier archiviert). Sie bezieht sich dabei aufeine Umfrage den Meinungsforschungsinstituts Marist Poll.

DW-Faktencheck: Irreführend.

So geht Europa mit Schwangerschaftsabbrüchen um

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Für die erwähnte Studie wurden 1.004 Erwachsene Anfang Januar 2022 telefonisch zu ihrer Einstellung zu Abtreibungen befragt. Dabei ist laut der christlichen NGO "Knights of Columbus", die die Umfrage gesponsert hat, eines der Hauptresultate, dass 71 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner für eine gesetzliche Beschränkung von Abtreibung seien.  

Bei dieser Interpretation lohnt ein genauerer Blick: Den Befragten wurden verschiedene Statements vorgelegt, denen sie zustimmen oder widersprechen konnten. So setzen sich die 71 Prozent aus folgenden Antworten zusammen:  22 Prozent der Befragten gaben an, dass Abtreibung nur in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft erlaubt sein sollte. 28 Prozent, dass sie nur bei Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder Inzest erlaubt sein sollte sowie um das Leben der Mutter zu retten. Neun Prozent stimmten zu, dass Abtreibung einzig dann erlaubt sein sollte, wenn das Leben der Mutter geredet werden müsste, und zwölf Prozent sagten, Abtreibung sollte niemals erlaubt sein.  

Diese 71 Prozent zeigen also nicht, dass dieser Teil der Befragten für eine extreme gesetzliche Beschränkung der Abtreibung sind, sondern nur, dass sie für eine Beschränkung der Abbrüche sind - und zwar sehr unterschiedlicher Art. Es gibt aber beispielsweise auch kaum Befürworter von legalen Abtreibungen, die dafür sind, eine Schwangerschaft jederzeit bis zum neunten Monat abbrechen zu dürfen.   

Andere Studien liefern zudem andere Ergebnisse. Eine aktuelle Umfrage des National Public Radio (NPR) unter 941 Erwachsenen in den USA kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass eine Mehrheit 56 Prozent der Befragten gegen die Entscheidung des Supreme Courts ist, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr grundsätzlich zu gewährleisten. 40 Prozent befürworten die Entscheidung des Gerichts, vier Prozent sind unsicher. Die USA sind in dieser Frage also gespalten, die Behauptung, dass es eine breite Mehrheit gegen Abtreibung gebe, entspricht nicht den Fakten.

Angeblich sinken die Zahlen von Abtreibungen stetig

Behauptung: "Die Abtreibungsrate in den USA sinkt schon seit Jahrzehnten", schreibt ein Twitter-Nutzer. Um diese Behauptung (hier archiviert) zu belegen, veröffentlichte er eine Statistik der US-NGO Guttmacher-Institut, die aufzeigt, dass die Abtreibungsrate seit fast vierzig Jahren sinkt. 1981 hätten im Durchschnitt 29,3 von 1.000 Frauen zwischen 15 und 44 einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen - 2017 nur noch im Schnitt 13,5 Frauen von 1.000. 

DW-Faktencheck: Irreführend. 

Die Grafik stimmt zwar mit den Zahlen von Guttmacher überein, doch die letzten Daten von 2019 und 2020 fehlen in der Grafik, die auf Twitter veröffentlicht wurde. Hier stieg die Abtreibungsrate nämlich wieder leicht an. 2019 nahmen 14,2 von 1.000 Frauen eine Abtreibung vor, 2020 14,4.  

Zum Hintergrund: In den USA veröffentlichen sowohl das Guttmacher Institut als auch die Centres for Disease Control and Prevention Zahlen zu Abtreibungen. Dabei nutzen sie verschiedene Methoden und kommen so auf unterschiedliche Zahlen. Die Daten der CDC beinhalten beispielsweise häufig keine Zahlen aus allen Bundesstaaten. Genaueres zu den Methoden der Datensuche kann hier nachgelesen werden. 

Tatsächlich zeigen die zuletzt veröffentlichten Zahlen beider Institute, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Abtreibungen leicht in die Höhe gegangen sind. Im letzten CDC-Bericht wurden für das Jahr 2019 629.898 Abtreibungen gezählt, im Vergleich zu 619.591 im Jahr 2018. Guttmacher veröffentlichte auch schon Zahlen für 2020: So zählten die Forscher 930.160 Schwangerschaftsabbrüche in den USA, verglichen zu 916.460 im Jahr zuvor.

Dieser Artikel wurde am 29. Juni veröffentlicht und zuletzt am 1. Juli aktualisiert. Wir haben die Stelle korrigiert, in der steht, dass die Zahlen von Abtreibungen in den Ländern in die Höhe gingen, in denen Abtreibung "verboten" sei. Hier muss es "eingeschränkt" heißen.

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