1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Faktencheck: Corona-Studie, die keine ist

Tetyana Klug | Uta Steinwehr
20. Februar 2021

Die Universität Hamburg verbreitet die Recherche eines Professors, wonach das Coronavirus aus einem Labor in Wuhan stammt. Warum die Bezeichnung "Studie" hier nicht passt, erklärt die DW im Faktencheck.

Ein Sicherheitsmann hält die Hand vor eine Kameralinse
Ein Team der WHO untersuchte Anfang des Jahres die Herkunft der Pandemie - Medien waren nicht gern gesehenBild: Ng Han Guan/AP Photo/picture alliance

Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie gilt als eine der umstrittensten Fragen: Woher stammt das Virus SARS-CoV-2? Die zwei gängigsten Theorien besagen, dass die Pandemie ihren Ursprung entweder auf einem Wildtiermarkt in Wuhan hat, bei dem das Virus vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist, oder sie entstand durch einen Unfall im Institut für Virologie der Millionenmetropole.

Letztere Theorie unterstützt Roland Wiesendanger, Professor an der Universität Hamburg, mit seiner frisch veröffentlichten "Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie". Da es, wie er im Text betont, keine "wissenschaftlich basierten strikten Beweise" für die Theorien zur Herkunft des Coronavirus gibt, trägt er Indizien zusammen: auf Basis von wissenschaftlichen Artikeln, Veröffentlichungen in Medien und sozialen Netzwerken und Gesprächen mit internationalen Wissenschaftlern. Die Arbeit daran lief im gesamten Jahr 2020.

Hygiene steht beim Zerlegen von Tieren auf manchen chinesischen Märkten nicht unbedingt an erster StelleBild: Aly Song/REUTERS

Wiesendanger kommt zu dem Ergebnis, "dass sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien eindeutig für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärtigen Pandemie sprechen", wie es in der Veröffentlichung heißt.

Spätestens seitdem die Universität Hamburg die Ergebnisse und Aussagen von Roland Wiesendanger per Pressemitteilung verbreitet hat, wird er von verschiedenen Seiten scharf kritisiert. Die Veröffentlichung führt dazu, dass auf Twitter in Deutschland der Hashtag #UniHamburg trendet. 

An dieser Stelle möchten wir betonen, dass dieser Faktencheck nicht bewertet, wie glaubwürdig die These zur Laborherkunft des Coronavirus ist, oder wie stichhaltig einzelne Indizien wie beispielsweise zur Sicherheit der Coronaviren-Forschung in China ist. Stattdessen erläutern wir, wie wir die wissenschaftliche Basis der Veröffentlichung einschätzen. 

Wer ist Roland Wiesendanger?

Roland Wiesendanger ist Professor am Institut für Nanostruktur- und Festkörperphysik der Universität Hamburg. Über Google Scholar zeigt sich, dass er bis Jahresende 2020 in wissenschaftlichen Artikel rund 36.000 Mal zitiert wurde, was für ein gewisses Renommee spricht.

Professor Roland Wiesendanger ist Physiker an der Universität HamburgBild: Sebastian Engels

Dass er sich als Physiker als Fachfremder mit dem Coronavirus beschäftigt, sieht Wiesendanger nicht als Ausschlusskriterium. Die Pandemie sei das drängendste Problem aktuell, alle Wissenschaftler könnten dazu Erkenntnisse beitragen, sagt er im Interview mit der Deutschen Welle. Den Ursprung der Pandemie zu finden, sei "extrem wichtig, denn es geht darum, Vorkehrungen zu treffen, um eine solche Pandemie zukünftig möglichst auszuschließen".

Lücken in der Methodik

Der Pressemitteilung zufolge basiert die Veröffentlichung auf einem "interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatz". Letztlich trägt Wiesendanger bekannte Fakten und Indizien zusammen, die für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der Corona-Pandemie sprechen. 

Der österreichische Physiker und Publizist Florian Aigner sagt der DW dazu im: "Eine wissenschaftliche Studie sollte eigentlich zwei wesentliche Kriterien erfüllen. Erstens muss man in der Studie zeigen, dass man den aktuellen Stand des Wissens kennt und verstanden hat. Und zweitens muss man irgendetwas Neues präsentieren." Das könnten neue Daten oder neue Ergebnisse sein. "Aber diese beiden Kriterien sind in diesem Fall nicht gegeben. Und es sieht für mich so aus, als wüsste der Herr Wiesendanger das auch."

Hat Wuhan das Virus besiegt?

03:53

This browser does not support the video element.

Die "Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie" entspricht in einigen Punkten nicht einmal den Anforderungen für wissenschaftliche Arbeiten, die die Universität Hamburg für die eigenen Studierenden erarbeitet hat. So soll eine starke Häufung wörtlicher Zitate vermieden werden, da sonst der Eindruck entsteht, dass der Verfasser eigenständige Formulierungen scheut. 

Professor Wiesendanger integriert mehrseitige Auszüge aus seinen Quellen. Teils fällt es als Leser schwer, die vom ihm selbst stammenden Absätze zu finden. Auch farbliche Markierungen einzelner Wörter, Sätze und Absätze, die er als Stilmittel durchgängig in der Veröffentlichung benutzt, entsprechen ebenfalls keinen gängigen Richtlinien.

"Das kann man machen", sagt Publizist Aigner. "Aber das ist natürlich nicht eine wissenschaftliche Studie. In einer wissenschaftlichen Studie kopiert man nicht einfach Texte zusammen, sondern man zitiert Texte und in erster Linie präsentiert man eigene Gedanken."

Auch der Allgemeine Studierendenausschuss der Universität Hamburg teilte bei Twitter die Meinung, die Veröffentlichung entspreche "nicht den wissenschaftlichen Standards, die wir von einer Universität erwarten".

Wiesendanger dagegen sagt, es sei "dahingehend eine wissenschaftliche Studie, dass ich mich basierend auf wissenschaftlichen Quellen mit dieser Frage des Ursprungs der Coronavirus-Pandemie auseinandergesetzt habe".

Fragwürdige Quellen

Wiederholt wird Wiesendanger für die Art seiner Quellen kritisiert. Dies könne er nicht verstehen, sagt er im Interview, da er seine Vorgehensweise in der Einleitung transparent mache und die Quellen "ganz klar" nach Art getrennt seien. 

In der Tat teilt er am Ende der Publikation die Quellen ein, darunter in wissenschaftliche Literatur, die von Fachkollegen begutachtet wurde - also ein Peer-Review-Verfahren passiert hat -, wissenschaftliche Literatur ohne das sogenannte "Peer review", und Artikel in Print- und Onlinemedien. Letztere machen mit 31 von 71 Quellen den größten Anteil aus.

Stammt SARS-CoV-2 aus dem virologischen Institut in Wuhan?Bild: Getty Images/AFP/H. Retamal

Im Gespräch betont Wiesendanger, dass die Medienartikel wichtig seien, um die Prozesse des letzten Jahres darzulegen. Er könne auch nicht nachvollziehen, warum er für die Auswertung von Beiträgen in sozialen Netzwerken kritisiert wird. Berichte über gewisse Vorkommnisse finde man eben nur dort und nicht über wissenschaftliche Publikationen, sagt er.

Je nach wissenschaftlichem Thema ist dies tatsächlich keine abwegige Vorgehensweise. Doch einige seiner verwendeten Quellen zeigen eine deutliche Nähe zu Verschwörungstheorien oder stehen für unseriösen Journalismus.

So zitiert Wiesendanger zwei Artikel von GreatGameIndia. Das Portal veröffentlichte in den vergangenen Tagen unter anderem einen Artikel über ein Video, in dem Facebook-Chef Mark Zuckerberg angeblich zugebe, dass Corona-Impfungen die menschliche DNA verändern würden, oder einen Bericht, wonach deutsche Nonnen 175 Waisenjungen für sexuelle Praktiken verkauft hätten. Auch ein Artikel der Epoch Times ist zu finden - einer Mediengruppe mit anti-chinesischer Haltung, die in westlichen Staaten Rechtspoplisten unterstützt und bekannt dafür ist, auch Falschinformationen zu verbreiten.

Eine Delegation der Weltgesundheitsorganisation durfte mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch Wuhan besuchenBild: Hector RetamalAFP/Getty Images

Auf die Fragen, ob er die Kritik hieran verstehe und ob ihm bewusst gewesen sei, dass manche Quellen problematisch sind, antwortet Wiesendanger: "Es gibt keine problematischen Quellen, wenn man sie entsprechend einordnet." Doch diese Einordnung erfolgt in beiden Fällen nicht.

Konkret angesprochen darauf, in welchem Umfeld GreatGameIndia sich bewegt, sagte Wiesendanger, er habe sich dort auf ein Originaldokument bezogen, welches er zwar auch unabhängig von der Webseite geprüft habe, er müsse jedoch die Originalquelle angeben. Unerwähnt lässt er, dass er sich über die Plattform außerdem auf ein Interview mit dem Biowaffenexperten Francis Boyle bezieht. Die US-Nachrichtenagentur Associated Press bezeichnet Boyle - neben GreatGameIndia - als "Superspreader" von COVID-19-Verschwörungstheorien.

Wissenschaftspublizist Florian Aigner kritisiert auch die Verwendung einer Preprint Studie von Luc Montagnier, wonach dieser Teile von HI-Viren in SARS-CoV-2 gefunden habe. Montagnier ist zwar Virologe, Entdecker des HI-Virus und Nobelpreisträger, doch er "ist seit vielen Jahren eine sehr, sehr umstrittene Figur", da er sich mehrfach "vollkommen unwissenschaftlich" geäußert habe. 

"Das zeigt für mich, dass sich Professor Wiesendanger nicht unbedingt besonders kritisch mit diesen Quellen auseinandergesetzt hat, sondern angesammelt hat, was seine These stützt und die Kritik daran eher ausgeklammert hat", so Aigner.

In puncto Montagnier liefert Professor Wiesendanger im Text tatsächlich eine Einordnung zu den kritischen Reaktionen auf Montagniers Aussagen. Diese seien allerdings "keine wissenschaftlichen Argumente der Gegenseite, sondern ausschließlich diffamierende Kommentare".

Ungeprüfte Veröffentlichung

Wiesendanger hat seine Untersuchung auf dem Portal ResearchGate veröffentlicht. Die Plattform selbst nennt sich ein professionelles Netzwerk für Wissenschaftler und Forscher, das über 19 Millionen Mitgliedern aus aller Welt nutzten, um Forschungsarbeiten zu teilen und zu besprechen. 

Tatsächlich aber kann dort jeder seine Arbeiten hochladen, ohne dass sie einer Gütekontrolle unterliegen. "Vertrauenswürdig ist etwas erst dann, wenn es von Fachkollegen, die sich gut auskennen, geprüft wurde", sagt Wissenschaftspublizist Aigner. Das ist das sogenannte Peer-Review-Verfahren. Mit einer "ganz spektakulären Behauptung an die Öffentlichkeit" zu gehen, "ohne auch nur zu versuchen, durch den Peer-Review-Prozess zu kommen", bezeichnet Aigner als "eine Abkürzung, die nicht in Ordnung ist".

Wiesendanger sagt im ResearchGate sei für die Veröffentlichung seine erste Wahl gewesen, "um ein möglichst breites Publikum zu erreichen", denn bei Fachzeitschriften müssten Nutzer Geld zahlen, um Zugriff auf Artikel zu haben.

Fazit

Die Veröffentlichung von Wiesendanger kann als eine Recherche betrachtet werden, die mögliche Indizien für die Theorie des Laborursprungs von SARS-CoV-2 zusammenträgt. Diese Theorie und die Qualität der Indizien bewerten wir hier nicht. Doch der Universitätsprofessor hat einige grundlegenden Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens nicht eingehalten, sodass die Veröffentlichung nicht als Studie bezeichnet werden kann. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen