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Faktencheck: Verstößt Schuldenbremsen-Stopp gegen Amtseid?

8. November 2024

Die deutsche Regierung zerbrach an einem Streitpunkt: der Schuldenbremse. Christian Lindner erklärt, die von Kanzler Olaf Scholz geforderte Aussetzung der Schuldenbremse hätte gegen seinen Amtseid verstoßen. Stimmt das?

Symbolbild Schuldenbremse. Im Vordergrund ein Verkehrsschild mit der Aufschrift Schuldenbremse, im Hintergrund der Reichstag in Berlin und die deutsche Flagge
Dramatisch: Der Streit um die Schuldenbremse führte zum Aus der AmpelkoalitionBild: Torsten Sukrow / SULUPRESS.DE/picture alliance

Das Tischtuch zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Ex-Finanzminister Christian Lindner ist zerschnitten. Nur in einem Punkt waren beide sich einig: Die Zusammenarbeit scheiterte an der Schuldenbremse. Diese bedeutet eine Begrenzung der Kreditaufnahme in Relation zur Wirtschaftsleistung. Scholz wollte sie aussetzen, Lindner beharrte auf ihr - und begründete das mit seinem Amtseid, den er geschworen hat.

Lindner: "Kanzler hat Zusammenarbeit mit FDP aufgekündigt"

03:42

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Behauptung: "Der Bundeskanzler hat ultimativ von mir verlangt, die Schuldenbremse des Bundes auszusetzen. Dem konnte ich nicht zustimmen, weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte". Dies erklärte Ex-Finanzminister Christian Lindner nach seiner Entlassung am 6. November 2024 nach seinem Rücktritt.

DW-Faktencheck: Irreführend.

Die Schuldenbremse war nicht Gegenstand von Lindners Amtseid. Bei seiner Vereidigung als Finanzminister am 8. Dezember 2021 im Deutschen Bundestag legte Christian Lindner folgendes Gelöbnisab: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."

Die allgemeine Formel des Amtseids enthält also keine konkreten Verpflichtungen zum Umgang mit der Schuldenbremse, auf die sich Lindner beziehen könnte. Diese ist in Artikel 115 des Grundgesetzes festgelegt. Dort heißt es: "Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen." Dies bedeutet grob gesagt, dass der Staat nur so viel Geld ausgeben darf, wie er einnimmt. 

Schuldenfinanzierte Ukrainehilfen "momentan schwer zu begründen"

Während für die Länder ein absolutes Verschuldungsverbotgilt, ist dem Bund eine Nettokreditaufnahme in Höhe von maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung gestattet. Ein Beispiel: Das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 betrug rund 3,88 Billionen Euro, demnach durfte der Bund sich also mit rund 13 Milliarden Euro zusätzlich verschulden.

Zurück zu Lindners Behauptung, eine Aussetzung hätte seinen Amtseid verletzt: Nach Einschätzung von Friedrich Heinemann, Professor für öffentliche Finanzwirtschaft am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), gibt es hier allerdings "einen Interpretationsspielraum". "Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 (das Urteil finden Sie hier) kann Lindner argumentieren, dass schuldenfinanzierte Ukrainehilfen mit dem Grundgesetz momentan schwer zu begründen sind", erklärt er auf Anfrage der DW.

Die "Sichtweise, dass er hier zu einem Grundgesetzverstoße genötigt worden wäre, ist möglich". Dies, so Heinemanns Interpretation, wäre dann auch gegen Lindners Amtseid.

Fühlt sich der Schuldenbremse verpflichtet: Finanzminister Christian Lindner nach seiner Entlassung aus dem Amt am 7. NovemberBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Haushaltsrecht liegt beim Bundestag

Fakt ist allerdings auch, dass der Finanzminister nicht direkt über die Aussetzung der Schuldenbremse entscheiden kann. Denn dies ist die Aufgabe des Deutschen Bundestags, der das Haushaltsrecht ausübt. Lindners Aufgabe als Finanzminister wäre es gewesen, einen Haushaltsentwurf vorzulegen, über den dann im Bundestag abgestimmt wird.

2022 wurde eine Kreditaufnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe beschlossen. Um das möglich zu machen, hatte der Bundestag, wie schon für die Haushaltsjahre 2020 und 2021, eine Ausnahmeregelung der Schuldenbremse in Anspruch genommen: Unter Verweis auf die Folgen der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine machte das Parlament eine "außergewöhnliche Notsituation" geltend.

Denn grundsätzlich erlaubt das Grundgesetz die Aussetzung der Schuldenbremse "im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen".

In der Debatte über den Haushalt 2024 forderten die SPD und die Grünen, erneut eine Notsituation festzustellen und sie mit den Folgen des Krieges in der Ukraine und der Energiekrise zu begründen. Diese Argumentation wird von Experten jedoch als schwierig bewertet. Finanz-Verfassungsrechtler Stefan Korioth von der Universität München sagte in der deutschen Zeitung "Tagesspiegel": Eine solche Notlage müsse ein "schockartiges Ereignis von außen sein, das nicht kontrollierbar ist und die Finanzlage des Bundes erheblich beeinträchtigt". Die Folgen des Ukrainekriegs könnten zur Begründung herangezogen werden. "Allerdings liegt der Ausbruch des Krieges schon länger zurück, sodass es mit dem Zeitablauf zunehmend schwerfällt, darzulegen, warum der deutsche Staat gerade jetzt dadurch außergewöhnlich belastet ist", so Korioth.

Fazit: Kanzler Scholz drängte Lindner in der Tat zur Aufhebung der Bremse. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch und zwangsläufig, dass Lindner im Falle einer Zustimmung seinen Amtseid verletzt hätte. Denn Letzterer lässt wie geschildert einen gewissen Interpretationsspielraum zu. Zugleich ist ungewiss, ob eine geplante Aussetzung der Schuldenbremse nicht erneut vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden wäre.

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