Faktencheck: Viele Fakes zum Saidnaja-Gefängnis in Syrien
13. Dezember 2024Eine der ersten Dinge, die die Rebellen in Syrien taten, nachdem sie vergangenen Sonntag die Hauptstadt Damaskus eroberten, war, die Gefangenen aus den Zellen des berüchtigten Militärgefängnisses Saidnaja zu befreien. Von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International als "Menschenschlachthaus" bezeichnet, war Saidnaja ein Ort, an dem die syrischen Behörden unter Präsident Baschar al-Assad systematisch Zivilisten folterten und in großer Zahl hinrichteten.
Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Gefangene, Omar al-Shogre, erklärt gegenüber der DW: "Die Zahl der dokumentierten Gefangenen in Syrien lag vor dem Fall des Regimes bei etwa 139.000. Ich glaube, in Wahrheit wurden über 200.000 Menschen in diesen Zellen täglich gefoltert."
"Wir sprechen von Hunderttausenden Menschen, die über Jahrzehnte hinweg festgehalten und gefoltert wurden. Das bedeutet, dass viele Syrer, fast jede syrische Familie, jemanden verloren hat oder jemanden kennt, der verschwunden ist, und von diesen Menschen nie wieder gehört hat", sagt Ibrahim al-Assil vom Middle East Institute im DW-Gespräch.
Während viele verzweifelt nach ihren Angehörigen suchen, die angeblich in Saidnaja festgehalten wurden, überschwemmen Bilder und Videos das Internet, die die befreiten Gefangenen zeigen.
Das Leid der Menschen und jetzige Erleichterung vieler sind echt - doch einige Aufnahmen im Internet sind es nicht. DW Faktencheck hat einige der viralen Behauptungen untersucht. Denn Fake News leugnen die Realität und tragen dazu bei, die Aufklärung über die Gräueltaten des Assad-Regimes zu verschleiern.
KI-generiertes Bild geht als Foto eines Saidnaja-Gefangenen viral
Behauptung: "Dies ist einer der Gefangenen aus dem Saidnaja-Gefängnis. Der Mann ist überrascht, ein menschliches Gesicht zu sehen, weil ihn eine abscheuliche Person unter die Erde gesteckt und beschlossen hat, ihn im Loch zu vergessen", heißt es auf Arabisch in einem Post auf Xmit einem Bild eines scheinbar erschrockenen Mannes, der aus einem Loch im Boden kommt.
DW-Faktencheck: Fake.
Das Bild zeigt keinen Gefangenen aus dem Saidnaja-Gefängnis. Eine Bilderrückwärtssucheführt zu einem weiteren X-Postmit einem Bild und einem fünf Sekunden langen Video, in dem ein Mann aus einem Loch kriecht, während er eine große Spinne in der Hand hält. Das Video wurde am 3. Dezember 2024 auf TikTok veröffentlicht und ist dort als KI-generiert gekennzeichnet. Auch die weit aufgerissenen Augen des Mannes trotz des grellen Lichts und die unnatürlichen Handbewegungen sind Hinweise, dass das Video mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) produziert wurde.
"Ja, alles ist KI, komm schon", heißt es zudem in der Beschreibung des TikTok-Kontos, das täglich gruselige KI-generierte Videos veröffentlicht, in denen häufig Männer und Frauen mit riesigen Spinnen und unbekannten Kreaturen in Tunneln zu sehen sind.
Angebliche Saidnaja-Eindrücke stammen aus Museum in Vietnam
Behauptung: Ein Bild, das einen abgemagerten, langhaarigen und angeketteten Mann in einer Zelle zeigt, ist in verschiedenen sozialen Netzwerken viral gegangen - mit der Behauptung, es handele sich um einen Insassen des Saidnaja-Gefängnisses. "Auf den ersten Blick könnte man denken, das ist eine Szene aus einem Horrorfilm?! Aber tatsächlich ist es das Saidnaja (sic!) Gefängnis in Damaskus", behauptet ein Nutzer auf Meta.
DW-Faktencheck: Falsch.
Das weit verbreitete Bild zeigt keinen Gefangenen aus Saidnaja. Durch eine Bilderrückwärtssuchefanden wir ein Bild des gleichen angeketteten Mannes, das im August 2008 aufgenommen wurde und auf der britischen, privat betriebenen Stockfotografie-Agentur Alamy zu findenist.
Die Bildbeschreibung des Fotografen lautet: "Eine Rekonstruktion einer Zelle, die allgemein als 'Tigerkäfig' bekannt ist, im Kriegsopfer-Museum in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam." Es gibt noch weitere Bilder von Wachsfiguren in anderen Zellen, die von diesem Fotografen aufgenommen wurden.
Wie unsere Bilderrückwärtssuche zeigt, ist das virale Bild lediglich ein Still aus einem elf Sekunden langen Video, angeblich im Saidnaja-Gefängnis aufgenommen.
DW Faktencheck hat das Video mit dem Online-Tourfilmauf dem offiziellen YouTube-Kanal des vietnamesischen Kriegsopfer-Museums verglichen. Die meisten Bilder aus dem Video, das angeblich das Saidnaja-Gefängnis zeigt, stammen aus diesem Film des Museums. Das Bild des langhaarigen, gekettenen Mannes wurde vermutlich in das Video integriert.
Behauptungen über unterirdische Zellen verbreiten sich weiter, trotz fehlender Beweise
Behauptung: Dieses Videosoll ein Kleinkind in unterirdischen Zellen von Saidnaja zu zeigen. Der einminütige Clip, der auf TikTok weit verbreitet wurde und über 2,7 Millionen Aufrufe hat, beginnt mit einer Nahaufnahme eines Kindes, das durch eine kleine Öffnung in Trümmern oder Schutt blickt, während eine Hand herausragt.
Es folgt ein Satellitenbild des Saidnaja-Gefängnisses, begleitet von einem Voiceover, das behauptet, das Gefängnis enthalte versteckte unterirdische Zellen, in denen Gefangene ohne Nahrung, Wasser oder frische Luft gefangen sind. Das Voiceover fordert die Zuschauer auf, das Video zu teilen, um internationale Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Obwohl das Voiceover nicht explizit behauptet, dass sich Kinder in dem Gefängnis befinden, interpretieren viele der über 1.000 Nutzer, die das Video kommentierten, es so. Einige äußerten Traurigkeit und Sorge um das Schicksal des Kindes.
DW-Faktencheck: Falsch
Dieses Video des Kleinkindes stammt nicht aus dem Saidnaja-Gefängnis oder einem damit verbundenen Vorfall. Eine Bilderrückwärtssuche führt zu längeren Versionen, die noch online verfügbar sind und in denen gezeigt wird, wie das Kind zu Hause spieltund nicht unter Trümmern gefangen ist.
Das Video scheint von einem mittlerweile gelöschten TikTok-Accountzu stammen, auf dem regelmäßig Videos des Kindes erschienen. Dasselbe Material wurde in den letzten Wochen mit verschiedenen falschen Behauptungen verbreitet, darunter die, dass es ein Kind aus Gaza zeige, das nach einem israelischen Luftangriff unter Trümmern gefangen sei.
Es ist schwierig, den genauen Zeitpunkt und den Ort des Filmmaterials zu verifizieren, aber es wurde Wochen vor den jüngsten Entwicklungen in Syrien hochgeladen. Es kann also nicht mit der Freilassung der Saidnaja-Gefangenen in Zusammenhang stehen.
Zudem wurden die Behauptungen über versteckte unterirdische Zellen im Saidnaja-Gefängnis widerlegt. Am 9. Dezember führte ein Team der Weißhelme – einer Freiwilligenorganisation, die mit den regierungsfeindlichen Rebellen verbunden ist – eine gründliche Untersuchung des Gefängnisses durch und setzte dabei ausgebildete Suchhunde ein.
In einer auf Social Media veröffentlichten Erklärungteilte die Organisation mit, dass nach der Inspektion aller Eingänge, Ausgänge, Belüftungsschächte, Abwassersysteme, Wasserleitungen, elektrischen Verdrahtungen und Überwachungssysteme "keine versteckten oder versiegelten Bereiche festgestellt wurden".
Wie irreführende Behauptungen Schaden anrichten
Die falschen Behauptungen und manipulierten Bilder im Zusammenhang mit dem Saidnaja-Gefängnis gehen weit über die spezifischen Fälle hinaus, die wir untersucht haben. Neben aus dem Kontext gerissenen Videos kursieren zahlreiche unbestätigte Behauptungen weiterhin online.
In einem verifizierten Videoetwa, das Syrer beim Betreten des Gefängnisses zeigt, ist kurz ein Kind zu sehen. Viele haben Standbilder dieser Szene geteiltund behauptet, dies beweise, dass Kinder im Saidnaja-Gefängnis festgehalten werden.
Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass Kleinkinder ihre inhaftierten Mütter in Gefängnissen begleiten. Es bleibt unklar, ob das Kind im Video zu den Gefangenen gehörte oder einfach von Zivilisten begleitet wurde, die die Einrichtung stürmten.
Falschinformationen über Gräueltaten und schlimme Geschehnisse zu verbreiten untergräbt die Bemühungen, diese zu dokumentieren und zu untersuchen, und erschwert so auch, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Letztere können sich eine unübersichtliche Informationslage zunutze machen , um die Realität zu leugnen. Fake News schwächen also letzten Endes die Bemühungen um Wahrheitsfindung Gerechtigkeit.
Mitarbeit: Emad Hassan und Claudia Dehn