Faktencheck: Hat UK die höchste Vergewaltigungsrate ?
Veröffentlicht 31. Oktober 2025Zuletzt aktualisiert 2. November 2025
Warnung: Dieser Artikel enthält Hinweise auf sexuelle Übergriffe und weitere Details, die Leser und Leserinnen verstörend finden könnten.
Ein Balkendiagramm, das vielfach auf der Plattform X kursiert (siehe Screenshot unten), zeichnet ein alarmierendes Bild. Ganz oben ragt ein roter Balken mit der Beschriftung "Vereinigtes Königreich" weit über alle anderen Länder hinaus, begleitet von der Überschrift in Großbuchstaben: "Vergewaltigungen in Europa".
Laut der Grafik schien die Zahl der Vergewaltigungen im Vereinigten Königreich pro 100.000 Einwohner im Jahr 2022 exponentiell höher zu sein als in Spanien, Griechenland, Deutschland und dem übrigen Europa. Doch das Diagramm ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie korrekte Zahlen genutzt werden, um in die Irre zu führen und Fakten zu verzerren.
Der DW-Faktencheck hat sich die Sache genauer angesehen.
Behauptung: "Das Vereinigte Königreich ist jetzt die Vergewaltigungshauptstadt Europas", postete ein Nutzer auf X. Die Behauptung wurde über eine Million Mal aufgerufen.
DW Faktencheck: Irreführend
Die Daten, wonach das Vereinigte Königreich 109 Vergewaltigungen pro 100.000 Einwohner gemeldet habe, stammen von World Population Review. Die Zahlen basieren auf Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Dieses weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass "die Herausforderungen bei der internationalen Vergleichbarkeit erheblich" seien.
Auch die Website selbst mahnt zur Vorsicht: Eine Gegenüberstellung von internationalen Vergewaltigungsstatistiken sei wie "Äpfel mit Birnen zu vergleichen" - zu unterschiedlich die rechtlichen Grundlagen, Erfassungsmethoden und gesellschaftlichen Kontexte.
"Die Daten wurden aus einer Quelle entnommen und auf eine Weise verwendet, vor der die Quelle ausdrücklich warnt: 'Tut das nicht, weil es nicht korrekt ist'", sagt Tanya Serisier, Dozentin für Kriminologie an der Birkbeck University of London und Autorin von "Speaking Out: Feminism, Rape and Narrative Politics" im Gespräch mit der DW.
Die Zahlen an sich sind korrekt und stammen aus dem diesjährigen World Population Review. Inzwischen wurden sie auf 117 Vergewaltigungen pro 100.000 Einwohner aktualisiert. Zwischen 2018 und 2020 lag die Rate bei etwa 100, bevor sie auf das aktuelle Niveau stieg.
Zahlen "spiegeln vor allem Meldepraktiken wider"
Doch der Vergleich dieser Zahlen zwischen Ländern ist problematisch. Im Jahr 2022 führte Grenada die Liste an, gefolgt vom Vereinigten Königreich, dann Schweden, Panama und Island. Am unteren Ende der Liste stehen Länder wie Libanon, Indonesien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Hongkong.
Eurostat, das Statistikamt der EU, das ähnliche Daten aus ganz Europa sammelt, erklärte gegenüber der DW, dass "der ausschließliche Fokus auf die Anzahl der Straftaten irreführend und unzureichend sein kann". Die scheinbar hohe Rate im Vereinigten Königreich spiegelt eher dessen Meldepraktiken und rechtliche Definitionen wider als die tatsächliche Häufigkeit von Vergewaltigungen.
Warum länderübergreifende Vergleiche scheitern
Es gibt mehrere Gründe, warum Kriminalstatistiken so schwer über Ländergrenzen hinweg vergleichbar sind. Es beginnt mit der Frage, wie Länder Vergewaltigung definieren. Manche haben sehr enge rechtliche Definitionen, die einen physischen Angriff, Drohungen oder Zwang voraussetzen. Andere Länder verwenden eine weiter gefasste Definition. Das Vereinigte Königreich reformierte 2003 sein Sexualstrafrecht und stellt seitdem die Zustimmung in den Mittelpunkt.
Auch bei der Erfassung und Meldung von Straftaten gibt es Unterschiede. Eine Gruppenvergewaltigung kann beispielsweise als eine einzige Straftat gezählt werden - oder, wie im Vereinigten Königreich, als mehrere einzelne Straftaten durch jeden Täter.
Das Vereinigte Königreich verwendet sogenannte Input-Statistiken, bei denen ein Fall bereits mit der Aufnahme einer Anzeige durch die Polizei gezählt wird. Andere Länder warten, bis eine Anzeige offiziell eingereicht wurde, und manche sogar, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.
Nicht zuletzt spielen kulturelle Unterschiede eine Rolle: das Vertrauen in die Strafjustiz, die fortbestehenden Mythen über Vergewaltigung, die Haltung zur Einwilligung und, wie Eurostat betont, der "Wissensstand und die gesellschaftliche Akzeptanz sexueller Gewalt". All diese Faktoren beeinflussen, ob ein Opfer sich entscheidet, die Tat bei der Polizei zu melden - und damit, ob sie in der Statistik erscheint.
Eine bessere Methode zur Messung
Kriminologinnen und Kriminologen empfehlen einen anderen Ansatz: Opferbefragungen, bei denen repräsentative Bevölkerungsgruppen über einen bestimmten Zeitraum zu ihren Erfahrungen befragt werden - anstatt sich ausschließlich auf Polizeistatistiken zu stützen.
"Kriminalstatistiken zeigen uns nur - und man verwendet dafür oft das Bild eines Eisbergs - das, was über der Wasseroberfläche liegt. Das sind die Fälle, die gemeldet und von offiziellen Stellen erfasst werden", erklärt Serisier. "Aber bei fast allen Verbrechen gibt es eine weitere Ebene, die nie zur Kenntnis der Behörden gelangt."
Laut Zahlen des britischen Amts für nationale Statistik (Office for National Statistics) registrierte die Polizei im Jahr 2024 über 71.000 Vergewaltigungen in England und Wales - ein Anstieg um 479 Prozent seit 2002. Der Crime Survey for England and Wales zeichnet jedoch ein anderes Bild: Nach dieser Schätzung haben im Jahr 2022 etwa 1,9 Millionen Erwachsene eine Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung erlebt - das ist das aktuellste verfügbare Jahr. Der Anteil der Erwachsenen, die angeben, vergewaltigt worden zu sein, ist jedoch seit 2005 relativ stabil geblieben und schwankt jährlich zwischen 0,4 Prozent und 0,7 Prozent.
Eine europaweite Umfrage mit standardisierten Fragen wäre "der einzige Weg, um die tatsächliche Vergewaltigungsrate zu ermitteln", sagt Marcelo Aebi, Kriminologe an der Universität Lausanne. Auch der Schwedische Nationalrat für Kriminalprävention kommt in einem Bericht von 2020 zu einem ähnlichen Schluss: "Eine gut durchgeführte europäische Opferbefragung ist eine bessere Wissensquelle".
Ist Migration ein Faktor?
Behauptung: "Der treibende Faktor? Unkontrollierte Masseneinwanderung", schrieb der britische Abgeordnete Rupert Lowe, Vorsitzender der migrationskritischen Gruppe Restore Britain, die die Grafik erstellt hat. Sein Beitrag wurde über eine Million Mal aufgerufen.
DW Faktencheck: Unbelegt
Das Vereinigte Königreich und die Niederlande haben nahezu identische Anteile an im Ausland geborenen Einwohnern - etwa 16 Prozent im Jahr 2022 - dennoch zeigt die Grafik, dass die Vergewaltigungsrate in den Niederlanden pro 100.000 Einwohner weniger als ein Sechstel der britischen Rate beträgt.
"Die Behauptung, die oft aufgestellt wird, lautet im Grunde: 'Wir lassen mehr Einwanderer ins Land, insbesondere aus bestimmten Regionen, und das erhöht unsere Vergewaltigungsrate'", so Serisier. "Es gibt keinerlei Belege dafür, dass das der Fall ist."
Das Vereinigte Königreich veröffentlicht keine Daten zur Nationalität oder ethnischen Herkunft von Tätern. Was nationale Erhebungen zeigen, ist, dass 85 Prozent der Opfer ihren Täter kannten - laut einer Regierungsstudie aus den Jahren 2014 bis 2017. Über die Herkunft der Täter sagt diese Erkenntnis jedoch nichts aus.
Andere Faktoren haben wahrscheinlich zum Anstieg der gemeldeten Vergewaltigungen in UK beigetragen. Nachdem ein Whistleblowerder Metropolitan Police 2014 aufdeckte, dass Sexualdelikte um etwa ein Viertel zu niedrig erfasst wurden, reformierte die Polizei ihre Erfassungsmethoden. Kulturelle Veränderungen wie die #MeToo-Bewegung und prominente Fälle haben vermutlich ebenfalls dazu geführt, dass mehr Opfer sich trauten, Anzeige zu erstatten.
Rupert Lowe, ehemaliges Mitglied von Nigel Farages populistischer Partei Reform UK, gründete Restore Britain im Sommer 2025. Er verfolgt eine migrationsfeindlicheAgenda und fordert unter anderem die Abschaffung des Asylsystems, "Massendeportationen" und "die Entfernung von Millionen Menschen".
"Ich möchte die Daten sehen, denn Fakten sollten an erster Stelle stehen", sagte Marcelo Aebi, Kriminologe an der Universität Lausanne. "Bei diesen Themen gibt es viel Lobbyarbeit - Menschen wissen von Anfang an, was sie sagen wollen und wie sie es erklären. Rhetorik ist sehr einfach." Auch wenn die Vergewaltigungsstatistiken des Vereinigten Königreichs alarmierend wirken, ist die Realität deutlich komplexer. Unterschiede in rechtlichen Definitionen, Meldepraktiken und kulturellen Faktoren machen internationale Vergleiche irreführend.
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Adaption aus dem Englischen: Rayna Breuer