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15.000 Tote für die WM - stimmt das?

Jan D. Walter | Matt Ford
16. November 2022

Kurz vor der Fußball-WM in Katar häufen sich Kritik und Boykott-Aufrufe. Menschenrechtler, Politiker und Fans weisen auf 15.000 Menschenleben hin, die das FIFA-Turnier angeblich gekostet habe. Stimmt das?

Eine Wand mit Hunderten bunten Fotos, dahinter erhebt sich das glänzend sandfarbene Stadion
Am Final-Stadion in der neuen Planstadt Lusail sind Tausende Fotos von Arbeitern zu sehen, die es errichtet habenBild: Gabriel Bouys/AFP/Getty Images

Dieser Faktencheck beschäftigt sich mit Zahlen, die FIFA und katarische Behörden sowie Menschenrechtsgruppen und Medien veröffentlicht haben und die immer wieder aufgegriffen, als Fakt behandelt oder auch angezweifelt wurden. Den Autoren dieses Artikels ist bewusst, dass diese Zahlen nur einen entfernten Eindruck des mutmaßlichen Leids der Arbeitsmigranten in Katar vermitteln können.

Behauptung: 15.000 Arbeiter sind für die WM in Katar gestorben.

Die Zahl 15.021 ist durch einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International  von 2021 bekannt geworden. Häufig genannt wird auch die Zahl 6.500 aus einem Artikel der britischen Zeitung "The Guardian" von Anfang 2021.

DW-Faktencheck: Falsch.

Obwohl vielfach so interpretiert, hat keine der beiden Quellen behauptet, dass all diese Menschen auf Stadion-Baustellen oder im direkten Kontext der FIFA-Fußballweltmeisterschaft zu Tode gekommen sind. Beide genannten Zahlen schließen ganz allgemein Ausländerinnen und Ausländer ein, die in Katar gestorben sind.

15.000 Tote nicht nur wegen der WM

Die Zahl 15.021 aus dem Amnesty-International-Report stammt aus den offiziellen Statistiken der katarischen Behörden der Jahre 2010 bis 2019. In den Jahren 2011 bis 2020 haben die Behörden demnach 15.799 Todesfälle von Nicht-Kataris in Katar erfasst. Dies schließt also nicht nur geringqualifizierte Baustellenarbeiter, Sicherheitsleute oder Gärtner, sondern auch Lehrer, Ärzte, Ingenieure oder Geschäftsleute ein. Manche von ihnen stammten aus Entwicklungsländern, andere aus Schwellen- und Industrieländern. Eine genaue Aufschlüsselung lassen die katarischen Statistiken nicht zu.

Die Guardian-Autoren kommen auf 6751, weil sie sich bei ihrer Recherche auf Menschen aus Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und Sri Lanka beschränkt und die Zahlen von Behörden der Herkunftsländer abgefragt haben. Aus diesen fünf Ländern stammt ein erheblicher Anteil der ausländischen Arbeitskräfte in Katar, insbesondere der nicht- oder geringqualifizierten.

Behauptung: Die Todesraten bewegen sich in einer "erwartbaren Größenordnung".

Die katarischen Behörden widersprechen den obenstehenden Zahlen nicht. Als Reaktion auf den Guardian-Artikel erklärte das katarische Informationsministerium jedoch, die Zahl sei "in einer erwartbaren Größenordnung bei einer Bevölkerung dieser Größe und Demographie".

DW-Faktencheck: Irreführend.

Richtig ist, dass die Sterberaten laut Statistiken der Weltgesundheitsorganisation in den Herkunftsländern erheblich höher sind als unter den Arbeitsmigranten in Katar. Und auch in Katar sterben den Statistiken des Landes zufolge von 100.000 Staatsangehörigen im Laufe eines Jahres mehr Menschen als unter 100.000 Arbeitsmigranten. Doch diese Befunde haben aus epidemiologischer Sicht wenig Aussagekraft, da die ausländische Community in Katar nicht mit einer gesamten Landesbevölkerung vergleichbar ist.

Arbeiter in Katar waren ausnehmend gesund

Zum Beispiel ist der Anteil von Kleinkindern und alten Menschen - also den Bevölkerungsgruppen mit der höchsten Sterblichkeit - ungleich kleiner als in der Gesamtbevölkerung der Länder. Zudem handelt es sich um ausnehmend gesunde Menschen. Denn um ein Arbeitsvisum für Katar zu erhalten, sind eine ganze Reihe Gesundheitsnachweise erforderlich. So müssen Anwärter unter anderem negative Tests auf Infektionskrankheiten wie HIV/Aids, Hepatitis B und C, Syphilis und Tuberkulose nachweisen. Krankheiten, die in einigen Herkunftsländern statistisch relevante Todesursachen sind.

Gleichzeitig weisen etwa die beiden französischen Journalisten Sébastian Castelier and Quentin Muller in ihrem Buch "Die Ölmann-Sklaven"("Les Esclaves de l'Homme Pétrole") darauf hin, dass keine der genannten Zahlen Arbeitsmigranten einbezieht, die kurz nach ihrer Heimkehr aus Katar verstorben sind. Nepal etwa hat in den vergangenen zehn Jahren einen signifikanten Anstieg von Nierenversagen mit Todesfolge unter Männern zwischen 20 und 50 Jahren verzeichnet. Auffällig viele von ihnen waren kurz zuvor von ihrer Arbeit im Nahen Osten zurückgekehrt. Die schwere Arbeit in der Wüste, gepaart mit mangelnder Trinkwassermenge und -qualität, von denen Betroffene berichten, böte eine schlüssige Erklärung dafür.

Behauptung: Es sind nur 3 Menschen durch ihre Arbeit auf einer WM-Baustelle gestorben.

Die FIFA und das katarische WM-Komitee halten daran fest, dass lediglich drei Menschen in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit auf Stadion-Baustellen ums Leben gekommen seien. Zudem räumen sie ein, dass 37 weitere WM-Arbeiter gestorben seien - aber ohne direkten Zusammenhang mit ihrer Arbeit.

DW-Faktencheck: Irreführend.

Diese Zählung mag korrekt sein. Dokumentiert sind zwei Unfälle, bei denen Arbeiter aus großer Höhe in den Tod stürzten, ein weiterer starb, nachdem ihn ein Tankfahrzeug angefahren hatte. Allerdings sind die Zahlen aus zwei Gründen irreführend. Zum einen lassen die WM-Macher damit all jene außer Acht, die auf anderen Baustellen zu Tode gekommen sind, die es ohne die WM wahrscheinlich nicht gegeben hätte. Denn die WM hat in Katar einen Bauboom ausgelöst, in dessen Zuge ein neues U-Bahnnetz, Autobahnen, Hotels, eine Flughafen-Erweiterung, die Planstadt Lusail und weitere Projekte gebaut worden sind. Auf den Turnier-Baustellen selbst waren laut FIFA in den Hochphasen gerade einmal etwas mehr als 30.000 Arbeitskräfte im Einsatz. 

Zum zweiten bezweifeln Kenner der Bedingungen vor Ort, dass die 37 Nicht-Unfall-Tode von WM-Arbeitern nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben. Dem Jahresbericht "Fortschritt der Arbeiterwohlfahrt 2019" des katarischen WM-Komitees zufolge starben von neun Stadion-Arbeitern in dem Jahr drei angeblich an Herzversagen oder Atemstillstand aus "natürlichen Ursachen". Für Epidemiologen sind das allerdings keine natürlichen Todesursachen, schon gar nicht bei 18- bis 60-Jährigen.

Tausende Todesfälle aus ungeklärter Ursache

Diese drei Todesfälle sind keine Ausnahme. Guardian-Recherchen haben ergeben, dass katarische Ärzte bei rund 70 Prozent der Todesfälle von Arbeitsmigranten einen plötzlichen Herz- oder Atemstillstand aus "natürlichen Ursachen" angegeben haben. Laut Amnesty International stützen Aufzeichnungen der Regierung von Bangladesch diese Zahl. Der ARD-Dokumentationsreihe "WM der Schande" zufolge gaben katarische Ärzte an, dazu gedrängt worden zu sein, Totenscheine so auszufüllen. Noch Ende 2021 bemängelte die Internationale Arbeiterorganisation ILO die Dokumentation von Unfällen und Todesursachen. Dabei hatte schon 2014 die internationale Anwaltskanzlei DLA Piper in einem unabhängigen Gutachten im Auftrag der katarischen Regierung unzulängliche Autopsien angemahnt.

In Nepal verbrennen Priester und Angehörige einen Mann, der 2016 in Katar im Straßenbau arbeitete und eines Nachts plötzlich verstarbBild: Niranjan Shresth/AP/picture alliance

Dass die Todesursache nicht bestimmt werden kann, geschieht in "ordentlich geführten Gesundheitssystemen" in etwa einem von 100 Todesfällen, sagen von Amnesty International befragte Experten. Eine invasive Obduktion sei fast nie nötig. In etwa 85 Prozent der Todesfälle genüge sogar eine "verbale Obduktion", also die Befragung von Augenzeugen oder Menschen, die das Opfer, seine Vorerkrankungen oder seine Lebensumstände kannten.

Zahlreiche solcher Zeugen haben Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International oder Fairsquare berichtet. Und ihre Berichte legen nahe, dass Hitzschlag, Erschöpfung oder eher leichte, aber nicht behandelte Erkrankungen die Ursachen vieler der plötzlichen unerklärten Tode sind. Die Lückenhaftigkeit der verfügbaren Aufzeichnungen macht eine abschließende Bewertung unmöglich. Was bleibt, ist die Frage, warum katarische Behörden keine aussagekräftigere Dokumentation der Todesfälle veröffentlichen.

 

Wir danken Nicholas McGeehan von Human Rights Watch und Fairsquare, Ellen Wesemüller von Amnesty International und Pete Pattisson von "The Guardian", die uns Einblicke in ihre Recherchen gegeben haben, um ihre Befunde nachzuvollziehen. Leider sind zahlreiche Anfragen der DW an die verschiedene Behörden von Katar, Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und Sri Lanka bis zur Veröffentlichung dieses Artikels unbeantwortet geblieben.

Mitarbeit: Sebastian Hauer

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Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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