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KatastropheNahost

Wusste jemand, dass es ein Erdbeben geben würde?

18. Februar 2023

Kurz nach dem Erdbeben in der syrisch-türkischen Grenzregion kursieren viele falsche Informationen um die Katastrophe. Angeblich haben Wissenschaftler sie vorhergesagt, Politiker davon gewusst und die USA sie ausgelöst.

Eingestürzte Gebäude
Von Menschen gemachte Zerstörung? Im Internet zeugen viele Posts davon, dass Menschen das glauben.Bild: MUHAMMAD HAJ KADOUR/AFP/Getty Images

Während in der betroffenen Region noch Menschen um ihr Überleben kämpfen, brodelt im Internet die Gerüchteküche. Suggeriert wird zum Beispiel, das Erdbeben sei von westlichen Mächten absichtlich hervorgerufen worden, um die Türkei für ihren Schlingerkurs in der NATO zu bestrafen und der türkischen Regierung vor den anstehenden Wahlen zu schaden.

Behauptung: Die Menschen im betroffenen Gebiet haben kurz vor dem Erdbeben ein merkwürdiges Licht am Nachthimmel gesehen.

In einem Tiktok-Video, das fast 30.000-mal gelikt und auf Twitter geteilt wurde, ist über einem Straßenzug ein grelles Licht zu sehen, das sich im 45-Grad-Winkel in den Nachthimmel erhebt.

Das Video, das angeblich ein Licht über der Türkei in der Nacht des Erdbebens zeigt, existiert bereits ein halbes Jahr im InternetBild: Twitter

DW-Faktencheck: Falsch.

Ein Twitter-Account mit dem baltisch klingenden User-Namen Jonas Vaitkevicius macht in seinem Kommentar zum Tweet darauf aufmerksam, dass in dem Video Stimmen auf Russisch zu hören seien: Ein Mann und eine Frau vermuteten darin, dass es sich um einen Raketenstart handelt.

Tatsächlich hatte User @Catasach369 das Video bereits am 7. Oktober 2022 mit dem Hinweis "Baikonur Cosmodrome - Southern Kazakhstan 06/10/2022" getwittert. Zwar wirft auch diese Angabe Fragen auf, da laut der Website des Weltraumbahnhofs in Baikonur kein Raketenstart am 6. Oktober stattgefunden hat. Eine DW-Anfrage an den Weltraumbahnhof blieb bisher unbeantwortet. Fest steht jedoch, dass es keinen Zusammenhang mit dem Erdbeben von Kahramanmaras gibt.

Haben westliche Diplomaten das Land vorsorglich verlassen?

Den augenscheinlich niederländischen User Peter P. hält das jedoch nicht davon ab, als Antwort eine Behauptung zu retweeten, die er offenbar für einen Erklärungsansatz für das Himmelsphänomen hält.

Behauptung: Mindestens acht westliche Länder haben 24 Stunden vor dem Beben ihre Botschafter aus der Türkei abgezogen.

Ein Twitter-User deutet an, dass mehrere westliche Botschafter kurz vor dem Erdbeben in Kaharamanmaras die Türkei verlassen hätten, um sich in Sicherheit zu bringen.Bild: Twitter

Diese Behauptung findet sich in verschiedenen Versionen in Sozialen Medien.

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Tatsächlich schlossen neun Staaten - darunter die USA, Deutschland und die Niederlande - Anfang Februar vorübergehend diplomatische Vertretungen in der Türkei. Als Grund für die Schließung gaben die Außenministerien aber Sicherheitsbedenken an, nachdem Aktivisten in Schweden und Dänemark - im Zusammenhang mit den geplanten NATO-Beitritten Schwedens und Finnlands, die die Türkei blockiert - Ausgaben des Korans verbrannt hatten. Daraufhin hatte der türkische Außenminister am 2. Februar die Botschafter der betreffenden Länder einbestellt, da die Regierung in den Sicherheitswarnungen einen Affront sieht. Mitte Mai finden in der Türkei Parlamentswahlen statt und die regierende AKP steht unter Druck.

Belege dafür, dass Diplomaten das Land verlassen hätten, werden nicht angeführt. Auf Anfrage bestätigte das Auswärtige Amt der DW, das deutsche Generalkonsulat sei in der ersten Februarwoche für zwei Tage geschlossen gewesen, nicht aber die Botschaft in Ankara; der Botschafter habe sich zur Zeit des Bebens in der Türkei aufgehalten. 

Wusste jemand, dass ein schweres Erdbeben bevorstand?

Unglaubwürdig ist die Behauptung ohnehin: Wer hätte schon vorhersehen können, dass ein solch verheerendes Erdbeben unmittelbar bevorstand? Viele User beziehen sich auf den selbsternannten "Erdbebenexperten" Frank Hoogerbeets. Der Niederländer behauptet, mit selbst entwickelter Software anhand von Planeten-Konstellationen die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben auf der Erde berechnen zu können.

Behauptung: Frank Hoogerbeets hat das Erdbeben vorhergesagt.

Am 2. Februar schrieb Hoogerbeets in einem Tweet: "Früher oder später wird sich ein Erdbeben in dieser Region (Süd-/Zentral-Türkei, Jordanien, Syrien, Libanon) der Stärke ~7,5 ereignen." In einer Karte ist ein Ort nur etwa 40 Kilometer südlich des tatsächlichen Epizentrums des Bebens vom 6. Februar eingezeichnet.

DW-Faktencheck: Irreführend.

"Es gibt keine wissenschaftliche Basis für (exakte) Erdbebenvorhersagen", heißt es in einem User-generierten Warnhinweis, den Twitter unter viele von Hoogerbeets Tweets gesetzt hat. Oliver Heidbach, der am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam Spannungsfelder in der Erdkruste erforscht, bestätigt das. Zwar wisse man mittlerweile sehr gut, wo sich Erdbeben in welcher Größenordnung ereignen werden. Der Zeitpunkt aber lasse sich bisher nicht bestimmen.

Hoogerbeets' Ansatz, die seismische Aktivität mit Planeten-Konstellationen zu erklären, hält Heidbach zudem für völlig unhaltbar. Zwar zitiere Hoogerbeets auf seiner Internetseite unterschiedliche Arbeiten, die jedoch keine plausible Erklärung für seine Hypothesen böten: "Die Publikationen führen relativ schnell in eine Sackgasse. Das sind Hypothesen ohne wissenschaftliche Grundlage, die auch der Physik nicht entsprechen, die dahintersteckt."

Viele User feiern den selbsternannten "Erdbebenexperten" Hoogerbeets, obwohl seinen Methoden laut Experten die wissenschaftliche Grundlage fehltBild: Twitter

Tatsächlich nimmt Hoogerbeets gar nicht für sich in Anspruch, Erdbeben exakt vorhersagen zu können. Eine Wortwahl wie "früher oder später" kann schließlich vieles bedeuten. In einem der jüngsten Videos warnt er sogar davor, aufgrund seiner Prognosen überstürzt zu handeln.

Hoogerbeets Prognosen, sagt Heidbach, gingen im Prinzip selten über empirische Wahrscheinlichkeiten hinaus: "Wenn er sagt, dass sich an einem bestimmten Tag mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Beben der Stärke 6 ereignet, stimmt das, denn wir messen global jedes Jahr 150 solcher Beben. Die meisten verursachen aber keine Schäden, weil sie in großer Tiefe passieren oder in Regionen, wo keine Menschen leben." Hinzu komme: Wenn man, wie Hoogerbeets, praktisch jeden Tag eine Prognose abgebe, lande man irgendwann eben einen Treffer, meint Heidbach: "Wenn das aber nicht stattfindet, wird diese Meldung verschwinden."

Heidbach hält es ohnehin für ausgeschlossen, dass kosmische Strahlung ein Erdbeben auslösen kann. "Das funktioniert nicht, weil die elektronischen Wellen durch Stein gedämpft werden. Das kennen wir ja vom Telefonieren in der Tiefgarage", erklärt Heidbach. Erdbeben mit einer solchen Magnitude entstünden in zehn Kilometern Tiefe oder mehr: "Da kommt unten nichts mehr an."

Eine Strahlung, die in dieser Tiefe möglicherweise die erforderliche mechanische Menge Energie entfalten könnte, um ein Erdbeben auszulösen, sei schlicht unrealistisch. "Alle Kernkraftwerke dieser Welt könnten diese Leistung nicht bringen", meint Heidbach. Und wenn, würde die Strahlung ihre Wirkung zunächst auf der Erdoberfläche entfalten: "Ich vermute, wir würden alle gegrillt werden."

Wurde das Erdbeben vorsätzlich ausgelöst?

Mit diesen Argumenten widerspricht Heidbach auch einem Mythos, der seit Jahrzehnten die menschliche Phantasie beschäftigt.

Behauptung: Die USA nutzen die Forschungsstation HAARP als Waffe - unter anderem, um Erdbeben auszulösen.

HAARP (High Frequency Active Auroral Research Program) ist eine Station zur Erforschung der oberen Atmosphäre in Alaska, an der ursprünglich auch das US-Militär beteiligt war.

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Die These, dass HAARP eine Waffe und eine Gefahr für die Menschheit sei, setzten vermutlich Jeane Manning und Nick Begich mit ihrem Buch "Angels don't play this HAARP" in die Welt. Obwohl unter anderem das Nachrichtenmagazin "Spiegel" bereits 1996 erklärte, warum die Thesen nicht stimmen können, hält sich die Theorie bis heute.

Die HAARP-Anlage sendet gewöhnliche Radiowellen. Allerdings bündelt HAARP die Wellen, statt sie - wie Radiostationen - in alle Richtungen zu verbreiten. Dieses Strahlenbündel sollen nun die USA von Alaska aus so gezielt gesendet haben, dass es rund zehn Kilometer unter Kahramanmaras seine elektromagnetische Energie in mechanische Energie umwandelt.

"Selbst wenn das ginge, würde gar nichts passieren", sagt Heidbach. Momentan hat HAARP eine Sendeleistung von 3,6 Megawatt. Das entspricht der maximalen Leistung einer mittelgroßen Windenergieanlage oder 1000 haushaltsüblicher Wasserkocher. Im Erdinnern, wo Beben entstehen, herrsche aber eine andere energetische Größenordnung, erklärt Heidbach: "Die Leistung an einer Plattengrenze entspricht der eines Kernkraftwerks, also einem Gigawatt." Das wären 275 solcher Windräder unter Volllast. Zudem sei auch hierbei zu berücksichtigen, dass Gestein elektromagnetische Strahlung absorbiert. Heidbach bleibt nur ein Fazit: "Das ist schlichtweg unmöglich, das ist Quatsch!" Da man Sachen nicht widerlegen kann, die es nicht gibt, fällen wir das etwas konziliantere Urteil: "Unbelegt."

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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