Fall der Visum-Mauer?
1. September 2002In einem Schreiben an die Europäische Kommission und die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten hat der russische Präsident Wladimir Putin in dieser Woche vorgeschlagen, einen visumsfreien Reiseverkehr zwischen Russland und der Europäischen Union einzuführen. Er weiß, dass die Umsetzung seiner Idee kurzfristig nicht realistisch ist. In einer Pressemitteilung des russischen Präsidialamtes wird von einem "ambitionierten Ziel" gesprochen, das in langfristiger Perspektive zu erreichen wäre. Dennoch befreit sich Putin mit dem Schreiben aus einer schwierigen politischen Situation - und er setzt dabei gleichzeitig sowohl seine eigenen Beamten als auch die Europäische Union unter Druck.
Problem Kaliningrad
Russland hat sich in den Gesprächen mit der EU über die Frage des Zugangs nach Kaliningrad in den vergangenen Wochen rhetorisch in eine Sackgasse manövriert: Russische Regierungsvertreter haben bislang die Hinnahme einer Visum-Pflicht für Reisen zwischen Kaliningrad und dem restlichen Russland mit starken Worten ausgeschlossen. Die vermutlichen Hoffnungen, dadurch ein Umdenken der EU herbeizuführen, waren jedoch vergeblich. Die EU hat zwar angeboten, die Regelungen für Transfer-Visa zu vereinfachen und bei der technischen Umsetzung zu unterstützen. Sie hat aber auch deutlich gemacht, dass sie vom Grundsatz der Visum-Pflicht für russische Staatsbürger beim Transfer durch "Schengen-Staaten" nicht abrücken will.
Spielraum für kurzfristige Lösung
Putins neuer Vorschlag verschafft der russischen Verhandlungsseite wieder politischen Spielraum - vor allem hinsichtlich der eigenen Bevölkerung. Denn: Mit einer EU-Erklärung, in einem bestimmten Zeitrahmen die Visum-Pflicht zwischen Russland und der EU aufzuheben, fiele es Putin leichter, den Russen zu erklären, warum man kurzfristig doch einem Transfer-Visum für Kaliningrad zustimmen würde.
Europäisierung im Innern
Die Aufhebung der Visum-Pflicht würde auch für EU-Bürger gelten, die nach Russland reisen. In den vergangenen Jahren haben besonders die Beamten im russischen Außen- und Innenministerium die Einreisehürden für Ausländer erhöht. Vor allem in der russischen Provinz werden ausländische Reisende immer noch von den Sicherheitsbehörden mit Argwohn betrachtet: Man darf sich als Ausländer mit Visum nicht frei in ganz Russland bewegen. Und innerhalb von drei Tagen muss man sich an dem im Visum festgelegten Aufenthaltsort registrieren. Putin setzt daher mit seinem Vorschlag auch seine eigenen Beamten unter Druck.
Schwierige Lage für die EU
Doch vor allem die Europäische Union hat Putin mit seinem Schreiben in eine schwierige Lage gebracht. Seit Jahren ist die europäische Politik bemüht, Russland stärker in Europa einzubinden. Eine deutliche Ablehnung von Putins Vorschlag kann sich die EU aus dieser Perspektive schwer erlauben.