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PolitikAsien

Türkei droht Rauswurf aus Europarat 

30. November 2021

Der Europarat kritisiert die Inhaftierung des Aktivisten Osman Kavala scharf. Nun berät er über die weiteren Schritte, an deren Ende gar der Ausschluss Ankaras stehen könnte. Im DW-Interview bezieht Kavala Stellung.

Türkei Osman Kavala, prominenter Angeklagter in Istanbul
Osman Kavala ist seit über vier Jahren in Haft - die Beweislage ist dürftigBild: ANKA

Seit 2017 sitzt der berühmte Aktivist und Kulturförderer Osman Kavala in türkischer Untersuchungshaft. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, sowohl bei den Gezi-Protesten von 2013 als auch beim gescheiterten Putschversuch von 2016 als Drahtzieher gewirkt zu haben. Er muss sich vor einem Gericht in Istanbul verantworten, aber die Beweislast ist äußerst dürftig. 

Zuletzt haben zehn Botschafter aus aller Welt seine Freilassung gefordert.  Präsident Erdogan reagierte gereizt und drohte damit, die Diplomaten auszuweisen. Nun geht der Streit in die nächste Runde: Ein türkisches Gericht hat am Freitag entschieden, Osman Kavala weiter im Gefängnis zu behalten. Damit hat es sich über die Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Kavala freizulassen, hinweggesetzt. Der Europarat, der den Fall als "politisch motiviert" bezeichnet, protestiert in aller Schärfe dagegen. 

Liberale Kräfte aus der Türkei richten sich oft an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um auf Missstände hinzuweisen Bild: DW/K. Karaca

Das Ministerkomitee des Europarats berät am Dienstag über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Dies könnte zum Ausschluss der Türkei aus dem Europarat führen. Die Deutsche Welle hat mit dem inhaftierten Osman Kavala vor seinem Prozesstag am 26. November Kontakt aufgenommen. Über seinen Anwalt konnten wir dem 64-Jährigen unsere Fragen in schriftlicher Form zukommen lassen. 

Deutsche Welle: Herr Kavala, seit ungefähr vier Jahren befinden Sie sich in Haft. Wie belastend ist diese Situation für ihre körperliche und geistige Verfassung? 

Osman Kavala: Bisher hatte ich keine ernsthaften Gesundheitsprobleme. Ich habe auch keine schlechte Laune. Denn erfreulicherweise erhalte ich von vielen Menschen, aus der Türkei und aus dem Ausland, von guten Freunden und Menschen, die ich nicht kenne, Unterstützungsbotschaften. Ich hoffe, dass meine psychische Verfassung gut bleibt. Aber ob die Haft einen Schaden hinterlassen hat,  wird erst dann klar, wenn ich wieder anfange, mein normales Leben zu führen. 

Kavala wird unter anderem vorgeworfen, die Gezi-Proteste im Jahr 2013 initiiert zu habenBild: picture-alliance/AP Photo

Ihnen wird neben dem "Versuch des Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung" auch "Spionage" zur Last gelegt. Glauben Sie, dass die gegen Sie erhobenen Vorwürfe darauf abzielen, die Zivilgesellschaft in der Türkei einzuschüchtern? 

Nicht nur der Spionagevorwurf, sondern der gesamte Verhaftungsprozess kann als Warnung an zivile Aktivisten gewertet werden. Der gegen mich erhobene Vorwurf der Spionage, meine Inhaftierung - trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) - wurde konstruiert, obwohl die gesetzliche Definition von einer Spionagetätigkeit gar nicht erfüllt wird. So wurde darauf verzichtet, geeignete Beweise für die angebliche Spionage vorzulegen. Aus diesem Grund habe ich die Anschuldigung einst mit Praktiken in der Nazizeit verglichen. In der Anklageschrift wird der Spionagevorwurf nur dadurch gestützt, dass ich als Vorstandsvorsitzender von Anadolu Kültür (einer Non-Profit-Organisation in Istanbul, die kulturelle und soziale Projekte fördert - Anm. d. Red.), Studien zu den Erfahrungen kurdischer und armenischer Bürger durchgeführt habe. Auch die enge Zusammenarbeit von Anadolu Kültür mit europäischen Stiftungen gilt als Indiz für die angebliche Spionagetätigkeit. Dass so eine Anklage von einem türkischen Gericht genehmigt wird und zu einer Inhaftierung führt, ist zweifellos für Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft ein bedrohlicher Fall. 

Der Europarat hat gedroht, disziplinarische Maßnahmen gegen die Türkei einzuleiten, falls Sie nicht bis zum 30. November freigelassen werden. Was halten Sie von dieser Drohung? 

Zwei Jahre sind nun vergangen, seit der EGMR urteilte, dass meine Inhaftierung politisch motiviert sei und das Gericht daher meine sofortige Freilassung forderte. Die Türkei weigerte sich jedoch, das Urteil des Gerichtshofs anzuerkennen. Die Fortsetzung meiner Haft, trotz dieses Urteils, schwächt die Kompetenz des EGMR - nämlich die Freiheiten der Bürger der Mitgliedstaaten des Europarats zu schützen, die sich als Einzelperson mit einer Beschwerde an den Gerichtshof wenden, wenn sie sich in ihren Menschrechten verletzt sehen. Dass der Europarat mit einem Vertragsverletzungsverfahren droht, ist ein notwendiger Schritt, um die Sicherheit und die Effektivität des Weges einer Einzelbeschwerde zu gewährleisten. 

Die Erklärung der zehn Botschafter, die Ihre Freilassung forderten, hat eine diplomatische Krise ausgelöst. Wie deuten Sie diese Kontroverse? 

Der Aufruf der zehn Botschafter entspricht exakt den Forderungen des Ministerkomitees des Europarats, der die Umsetzung der EGMR-Urteile überwacht. Ich halte es für sinnvoll, dass dieser Aufruf zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hat - kurz bevor das Ministerkomitee des Europarats tagt und darüber abstimmt, ob ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei eingeleitet werden soll. 

Es gibt Stimmen, die sagen, dass Ihr Fall an den tschechischen Dramatiker und Menschenrechtler Vaclav Havel erinnert - den berühmte Regimekritiker, der sich der Kommunistischen Partei in der ehemaligen Tschechoslowakei widersetzte. Stimmen Sie diesem Vergleich zu? 

Kann die Symbolfigur Kavala, wie einst der tschechische Regimekritiker Vaclav Havel, einen politischen Wandel einleiten? Bild: dpa/picture-alliance

Die kafkaeske Erfahrung, die ich in den letzten vier Jahren gemacht habe, mit allen möglichen phantasievollen Anschuldigungen, erinnert schon ein bisschen daran, was mit Havel passiert ist. Aber das war es auch schon mit den Ähnlichkeiten. Havel war ein angesehener Schriftsteller und Denker, der die Missstände beschreibt, die von dem politischen Regime hervorgerufen wurden. Zwischen den Freiheitsproblemen in der damaligen Tschechoslowakei und der heutigen Türkei lassen sich einige Parallelen ziehen, die politische Dynamik ist dennoch unterschiedlich. In der Tschechoslowakei, wo es kaum Platz für demokratische Politik gegeben hat, wurde ein Schriftsteller, der von der Gesellschaft geschätzt wurde, zu einer Symbolfigur des politischen Wandels. 

In der Türkei hingegen gibt es eine starke Opposition. Zweifellos werden Nichtregierungsorganisationen zur Demokratisierung beitragen. Die Hauptakteure des politischen Wandels werden jedoch politische Parteiführer und Kader sein.

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut