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Politik

Fall Nawalny: "Immer das gleiche Muster"

Mikhail Bushuev
14. September 2020

Der ehemalige deutsche Botschafter in Russland, Rüdiger von Fritsch, analysiert im DW-Interview, welches Verhaltensmuster der Kreml im Fall Nawalny anwendet und erklärt, wie man mit Moskau Klartext reden kann.

Rüdiger von Fritsch
Bild: picture-alliance/dpa/Tass/A. Geodakyan

DW: Russlands Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde mit einem Nervenkampfstoff vergiftet, daran hat man in Berlin keine Zweifel. Das russische Außenministerium fordert Beweise und droht mit einer "Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen" und gar mit einer "gravierenden Beeinträchtigung der internationalen Situation". Wie bewerten Sie diese Worte aus Moskau?

Rüdiger von Fritsch: Na ja, das ist ein bisschen die Geschichte von "Haltet den Dieb". Jemand stiehlt etwas, ruft ganz laut "Haltet den Dieb" und zeigt in die falsche Richtung. Das erleben wir jedes Mal als Reaktion. Das ist immer das gleiche Muster: Gegenvorwürfe, Schuldlastumkehr, Bezichtigungen, Drohungen, lächerlich machen, aber nie Aufklärung. Alexej Nawalny, ein russischer Bürger, wurde am 20. August in Russland mit einem Nervenkampfstoff vergiftet. Die russische Seite, die Regierung hätte jede Gelegenheit gehabt, die Angelegenheit seither aufzuklären, dazu beizutragen. Es gibt dazu sehr viel, was man vor Ort faktisch ermitteln könnte. Nichts sagt man, nichts hört man! Und wenn es denn jemand anders gewesen sein soll, wie gerne in Moskau gegenwärtig behauptet wird, dann ließe sich auch das beweisen.

Stattdessen nur: Gegenvorwürfe. Die Bundesregierung tut das, was, wie ich finde, richtig ist. Sie unterrichtet die Organisation zum Verbot chemischer Waffen. Russland ist dort Mitglied. Dann kann es eine Untersuchung geben, und so geht alles seinen Gang.

Blufft Moskau oder sind jetzt deutsche Unternehmen, Stiftungen und andere Organisationen, die in Russland tätig sind, in Gefahr?

Nun muss Russland selbst entscheiden, ob es blufft und inwieweit es sich insbesondere selbst schädigt. Die Beschädigung der Beziehungen Moskaus zum Ausland ist bereits eingetreten. Nicht nur im Verhältnis zu Deutschland: Es ist keine deutsch-russische Angelegenheit, sondern eine internationale. Es ist ein Verstoß gegen einen völkerrechtlichen Vertrag, gegen das Einsatzverbot chemischer Waffen. Das betrifft die gesamte Weltgemeinschaft. Und insofern hat Russland selbst dafür gesorgt. Dafür steht zumindest jeder Augenschein. 

Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Februar 2020Bild: Reuters/S. Zhumatov

Laut Informationen der Wochenzeitung "Die Zeit" und der "Tagesschau" handelt es sich bei dem Gift um eine Weiterentwicklung des sowjetischen Kampfstoffes Nowitschok. Das schließt eigentlich eine nicht-staatliche Beteiligung aus. Was ändert das an den deutsch-russischen Beziehungen, wenn Berlin davon ausgehen muss, dass in Russland verbotene chemische Waffen eingesetzt werden und, dass man diese gegen politische Gegner einsetzt?

Nun, das ist schlimm. Aber es ist ja leidernicht das erste Mal, dass das passiert. In der Vergangenheit ist ja die Wahrheit dann tatsächlich auch ans Licht gekommen. Denken wir an den Fall Skripal zurück (der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia wurden im März 2018 im britischen Salisbury vergiftet, Anm. d. Red.), als genau das gleiche Muster ablief, wie jetzt. Es wurde lächerlich gemacht, es wurden Gegenbezichtigungen erhoben, Beschuldigungen an den Westen und anderes mehr. Und hinterher stellte sich heraus, dass zwei Agenten des russischen militärischen Geheimdienstes, die namentlich bekannt sind, versucht hatten, Sergej Skripal und seine Tochter mit Nowitschok umzubringen.

Das heißt, es gibt ein Muster - leider - solcher Anschläge. Und insofern ist das eine Realität, mit der wir seit einiger Zeit konfrontiert sind. Eine schreckliche Realität.

Das macht den Umgang miteinander nicht leichter, den Umgang mit einem bedeutenden Land. Russland ist ein großes, ein wunderbares Land. Ich habe mir in fünf schwierigen Jahren in Moskau nie meine Sympathien für Russland verderben lassen, weil ich das Land mag, seine Geschichte, großen Respekt habe vor seiner Kultur und den Menschen. Aber sie haben gegenwärtig eine Führung, die es vorzieht, so zu agieren, wie sie agiert.

Es werden im Fall Nawalny gegenseitig Botschafter Russlands und Deutschland einbestellt. Könnten Sie für uns schildern, wie so ein Prozedere aussieht, wenn ein Botschafter einbestellt wird? Sie wurden bestimmt auch in Ihrer Zeit in Moskau einbestellt.

Das kann recht unterschiedlich aussehen. Das kommt darauf an, worum es geht. Manchmal wird man einbestellt und weiß gar nicht, worum es geht, und kann die Botschaft, die man erhält, höchstens zur Kenntnis nehmen. Manchmal weiß man, worum es gehen wird, manchmal ahnt man es. Man spricht absolut offen. Das ist auch ganz wichtig. Ich habe mit meinen russischen Kollegen, die ich trotz aller inhaltlichen Differenzen professionell sehr geschätzt habe, immer sehr offen sprechen können. Wir haben völligen Klartext geredet.

Ich will Ihnen mal ein Beispiel nennen. Das war der berühmte Fall Lisa, als die russische Propagandamaschinerie nichts unversucht ließ, um einen Fall, der sich tatsächlich völlig anders verhielt, sensationell aufzubauschen, Deutschland zu bezichtigen, Ängste in der Bevölkerung zu erzeugen und anderes mehr. Und als das Ganze in sich zusammenfiel, wurde ich ins russische Außenministerium gebeten. Es passierte wieder genau das Gleiche: Es rollte ein Angriff gegen uns, und es wurden Drohungen ausgesprochen. Und dann war das für mich eine gute Gelegenheit, Klartext zu reden und zu sagen: "Lieber Kollege, ich sage Ihnen jetzt mal etwas. Dass das staatliche russische Fernsehen, für das Ihre Regierung verantwortlich ist, mit folgenden falschen Bildern und Filmen aus anderen Zusammenhängen - und ich nenne Ihnen jedes einzelne Datum - , versucht hat, die Sache aufzubauschen - das ist das eigentlich Schlimme. Und nicht, dass Sie jetzt versuchen, um aus der Ecke zu kommen, einen Gegenangriff zu starten". Da kann man sehr offen reden. Das halte ich auch für entscheidend. Denn Harmoniesucht ist kein angesagtes Mittel der Politik.

Sie konnten also in Moskau ganz klar sagen, dass Sie auch nicht an die angeblich freiwilligen Kämpfer in der Ostukraine oder an die Geschichten rund um die MH17-Tragödie glauben, die aus Moskau verbreitet wurden?

Ich erzähle Ihnen mal eine Anekdote. Es wurde immer behauptet, Russland habe damit, was im Südosten der Ukraine passiere, überhaupt nichts zu tun. Und jeder wusste natürlich, dass es mit russischer Hilfe geschah. Wie hinterher auch herauskam und zugegeben wurde, denken wir nur an die Interviews, die Oberst Girkin (Ex-Offizier des russischen Militärgeheimdienstes Igor Girkin, Anm. der Red.) gegeben hat. Daraufhin hat ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft eine Reise an die Grenze unternommen und gesehen, wie Panzer ohne Hoheitsabzeichen aus der Ukraine nach Russland fuhren und dort von russischer Verkehrs- und Militärpolizei empfangen, begleitet, in Ruheräume geleitet wurden. Das hat er fotografisch dokumentiert. Diese Bilder habe ich, als einmal wieder die Behauptung der Kollegen im russischen Außenministerium kam, sie hätten damit nichts zu tun, auf den Tisch gelegt und sagte: "Liebe Freunde, das hier sind Aufnahmen eines deutschen Botschaftsmitarbeiters. Das ist die Wahrheit". Da wurde dann schnell das Thema gewechselt.

Druck durch Sanktionen

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Nach der Vergiftung von Nawalny spricht man in Berlin über mögliche Sanktionen gegen Russland. Zunächst klammerte die Bundeskanzlerin das Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 aus. Nun sagt sie, alle Optionen sollen offen bleiben. Der Außenminister Heiko Maas sagte, er hoffe nicht, dass "die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern". Haben Sie inzwischen auch Ihre Meinung geändert, dass die Pipeline zu Ende gebaut werden soll?

Vielleicht zwei Punkte. Zum einen ist es in der Situation, in der wir uns inzwischen befinden - keine Aufklärung seit über drei Wochen, keine Unterstützung, nur Beschimpfungen der anderen Seite - richtig, deutlich zu machen, dass man keine Option ausschließt, dass alle Optionen auf dem Tisch liegen. Und das halte ich in der gegebenen Situation auch für richtig, denn wir sind ja im Kreis der Partner und Verbündeten erst noch dabei, uns eine mögliche Antwort zu überlegen, sollte sich Russland weiter unkooperativ zeigen.

Zweiter Punkt: Nord Stream selbst. Nord Stream ist ein Wirtschaftsprojekt, das natürlich eine politische Dimension hat. Das darf man nicht übersehen. Deswegen hat die Bundesregierung sich auch mit Erfolg darum bemüht, dass der Gastransit über die Ukraine weiter gewährleistet wird. Er wird ja weiter stattfinden. Aber von dem Gas, das möglicherweise aus Nord Stream kommen wird oder kommen soll, werden sehr viele Europäer profitieren.

Gerade wir Deutsche, die wir dabei sind, die Energiewende zu vollziehen - erfolgreich - brauchen für eine Zwischenzeit ein Energie erzeugendes Mittel. Wir verzichten auf Kernkraft, wir verzichten auf Kohleeinsatz. Aber wir haben noch nicht ausreichend alternative Energien. Bis dahin müssen wir Energie erzeugen können, und das tun wir am besten mit Gas. Ich bin mir nicht so sicher, ob jene, die uns versuchen, Nord Stream auszureden, wie manche in Washington, dahinter nicht ihre eigenen Wirtschaftsinteressen haben, und ob das Frackinggas, das von dort angeboten wird, ökologisch wirklich sinnvoller ist. Interessant ist es in dem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass etwa im gleichen Umfang, wie wir wertmäßig Gas aus Russland kaufen, die USA Öl aus Russland beziehen.

Rüdiger von Fritsch war von März 2014 bis Juni 2019 Botschafter Deutschlands in Russland. In diese Zeit fielen viele einschneidende Ereignisse, die die deutsch-russischen Beziehungen nachhaltig veränderten: von der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland bis zum Krieg in der Ostukraine und dem Abschuss der Maschine MH17 über dem Donbass.

Heute ist von Fritsch Partner der Politik- und Unternehmensberatung "Berlin Global Advisors". Im Herbst erscheint im Aufbau-Verlag sein Buch "Russlands Weg. Als deutscher Botschafter in Moskau".

Das Gespräch führte Mikhail Bushuev.

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