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Gesellschaft

"Traurigkeit ist keine Krankheit"

Andrea Grunau Gelsenkirchen
21. Dezember 2017

Flucht vor Tod und Trauer? Nicht mit ihr. Mechthild Schroeter-Rupieper steht Familien bei, wenn ein Kind, Mama oder Papa sterben. Ihr Lebensthema betrifft jeden. Andrea Grunau hat sie begleitet.

Lavia Institut für Familientrauerbegleitung Gelsenkirchen Trauerbegleitung
Mechthild Schroeter-Rupieper (ganz li.) mit Kindern aus der Mini-TrauergruppeBild: DW/A.Grunau

"Meinen toten Mann würde ich ins Wohnzimmer stellen", es ist ganz still im Raum, als Mechthild Schroeter-Rupieper (53) erzählt, was sie und ihre Söhne tun würden, wenn ihr Mann stirbt: "Der Malte würde Klaviermusik machen, der Marius vielleicht Gitarre spielen. Wir würden sitzen und reden, trinken und weinen und lachen."

In der Wohnküche des Instituts für Familientrauerbegleitung "Lavia" in Gelsenkirchen spricht sie mit Jugendlichen, die sich auf die Firmung vorbereiten, über Tod und Trauer. Sie betont, wie wertvoll die Tage zwischen Tod und Beerdigung seien, um zu begreifen und Abschied zu nehmen.

Einer aus der Gruppe sagt, sie hätten am Vortag eine Leiche gesehen. "Hat man euch nichts über die Frau erzählt?", fragt die Trauerbegleiterin: "Wenn man mich tot sieht, wollte ich nicht, dass ihr nur sagt, 'eine Leiche mit roten Haaren'". Wichtig sei die Person des Menschen: "Auch eine tote Mama ist eine Mama." Manchmal erschrecke man sich, wenn man zu einem Toten komme. Der sehe aus, als schlafe er, man spüre aber, dass das Leben fehle. Da könne es helfen, aus dem Raum raus- und wieder reinzugehen, bis man sich daran gewöhnt habe.

Abschied zu nehmen, ist eine wichtige Erfahrung, sagt Familien-Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-RupieperBild: DW/A. Grunau

"Die Welt braucht mehr Glitzer"

Mechthild Schroeter-Rupieper ist von früh bis spät unterwegs, um Trauernde zu begleiten. Sie berichtet, dass sie am Morgen mit einer Familie beim Bestatter war. Die Oma der dreijährigen Sarah (Namen geändert, Red.) ist mit 57 Jahren gestorben. Der Opa war schon alleine bei ihr am Sarg und sagte: "Ich war bei meiner Frau, das war so gut. Wir haben uns nochmal unterhalten." Sein Sohn wollte nicht zu seiner Mutter, er wollte nicht vor Sarah weinen. Für so kleine Kinder ist der Tod aber noch gar nicht so erschreckend, weil sie die Endgültigkeit nicht verstehen, sagt die Trauerbegleiterin.

Für Sarah hatte sie Glitzerstifte dabei, damit sie den Sarg ihrer Oma bemalen konnte. Erst half die Mutter, dann der Opa, schließlich auch der Vater. "Alles war voller Glitzer, die Finger, dann die Gesichter", lächelt Schroeter-Rupieper, auch Tränen seien geflossen. Sarahs Mutter habe gesagt: "Die Welt braucht mehr Glitzer."

Angst vor einem Skelett im Bett

Was genau passiert, wenn jemand stirbt? Wie sehen Tote aus? Eva wusste das nicht, erzählt die Trauerbegleiterin: Sie war erst sieben, als ihre Mutter - eine Ärztin - zu ihr sagte: "Vielleicht lebe ich nur noch eine Woche." Eva kam nicht mehr mit ins Krankenhaus. Fragen hätte sie nicht, sagte sie ihrem Vater.

Als Mechthild Schroeter-Rupieper sie und ihren kleinen Bruder besuchte und sagte, dass Tote meist aussehen, als ob sie schlafen, war Eva erleichtert. Sie hatte gedacht, wenn ihre Mama stirbt, würde ein Skelett im Bett liegen - wie bei Halloween oder im Medizinbuch.

Jetzt traute sie sich, zu ihrer Mutter ins Krankenhaus zu gehen, auch als sie tot war. "Es war traurig, aber nicht gruselig", schreibt Eva im Vorwort zu Schroeter-Rupiepers Buch "Geschichten, die das Leben erzählt, weil der Tod sie geschrieben hat".

Unterdrückte Trauer kann explodieren

Eine Gesprächsrunde mit Mechthild Schroeter-Rupieper ist ein Wechselbad der Gefühle. Es wird geweint - Papiertücher stehen bereit - und herzhaft gelacht. Am Anfang und Ende steht die Frage: "Wie geht es dir?" Als Antwort-Hilfe geht ein Granitstein-Würfel mit sechs Symbolen herum: Herz, Tropfen, Sonne, Wolke, bunte Punkte oder Smiley. "Der Stein war schon in Österreich, Belgien, der Schweiz. Den hatten schon Jugendliche in der Hand, wo der Vater die Mutter ermordet hat, wo jemand an Krebs gestorben ist, wo sich jemand erhängt hat in der Familie."

Für Gefühle in der Trauergruppe: Papiertaschentücher und ein Würfel, der hilft, die eigene Verfassung zu beschreibenBild: DW/A. Grunau

Gefühle seien extrem vielfältig, gerade in der Trauer, sagt Schroeter-Rupieper. Sie warnt davor, sie zu unterdrücken. Trauer suche sich irgendwann einen Weg: Sie explodiere wie ein Schnellkochtopf, in dem sich zu viel Druck staut. Mit einem kleinen Knall lässt sie einen Springteufel aus der Dose - alle erschrecken, lachen dann erleichtert auf.

Trauer ist Stress, den kann man abbauen

"Traurigkeit ist keine Krankheit", betont die Trauerbegleiterin, "wir können das aushalten." Sie findet es falsch, Kinder abzuschirmen oder zu sagen: "Wein doch nicht." Das sei genauso blöd, wie jemandem zu sagen: "Lach doch nicht." Trauer sei Stress. Den könne man abbauen durch Bewegung - "springen hilft" -, weinen, singen, Musik hören oder machen, kuscheln, beten, schreiben und darüber reden. Wer Traurigkeit unterdrücke, könne krank werden.

Die gelernte Erzieherin hat 25 Jahre Erfahrung in der Familien-Trauerbegleitung, "damals gab es das Wort noch gar nicht", berichtet sie. Etwa 170 Kinder und Jugendliche kommen zu Lavia, oft über Jahre, dazu viele Erwachsene.

Es gibt Einzelgespräche und Trauergruppen für unterschiedliche Altersstufen, die Jüngsten in der Mini-Trauergruppe sind fünf Jahre alt. 15 Frauen und Männer arbeiten als Trauerbegleiter bei Lavia.

Gefühlsmonster

Für den Abend hat Schroeter-Rupieper die Trauergruppe für jung Verwitwete eingeladen. Sie hat Suppe gekocht. Nach dem Essen und der Vorstellungsrunde legt sie "Gefühlsmonster"-Karten auf den Tisch: "Wie ging es euch direkt nach dem Tod eures Partner, wie heute?" Frohe und frustrierte, weinende und wütende Monsterfiguren werden ausgesucht - falsche Gefühle gibt es nicht.

Dirk, dessen Frau Felicitas an Krebs gestorben ist - kurz nach ihrer Hochzeit im Krankenhaus -, hat große Angst, ob er seinen kleinen Sohn Luca (5) gut versorgen kann. Klappt es mit der Betreuung durch (Ur-)Omas und die Nachbarin? Er ist froh, dass Jürgen neben ihm "mit dem ganzen Papierkram" geholfen hat.

Bild: DW/A.Grunau

Jürgens Frau starb "vor 364 Tagen", erzählt er. Er wünscht sich von seinen Eltern mehr Verständnis für seine Trauer und bedauert, dass er sich gar nicht immer freuen kann über seine "goldige Tochter". Sein Leben ist viel anstrengender geworden. Veränderung und Verlust werden ihm erst richtig bewusst.

Geld erst, wenn jemand krank wird

In der Schlussrunde sagen alle, wie gut ihnen der Austausch getan habe. Schroeter-Rupieper berichtet von der großen Nachfrage nach Kursen und Sorgen um die Finanzierung der Trauerbegleitung. Krankenkassen zahlten erst, wenn Menschen krank werden und viel höhere Kosten entstehen. Auch die Stadt Gelsenkirchen - wie einige andere Städte - habe kein Geld dafür. Sie berichtet von einer Mutter mit vier Kindern, die nach dem Tod ihres Mannes zu Lavia kam, weil sie dringend Hilfe brauchte. Der Verein Lavia e.V. kann nur die ersten Beratungsstunden bezahlen. Die Mutter bat das Jugendamt um Unterstützung. Geld gebe es nicht, habe man ihr geantwortet, das Jugendamt helfe selbst.

In einer Januarnacht verübte die Mutter Suizid. Das Jugendamt bezahlte nur den nächtlichen Nothilfe-Einsatz von Mechthild Schroeter-Rupieper. Sie hat den Kindern trotzdem weiter geholfen, begleitete sie auch beim Abschied: Die Kinder bemalten den Sarg. Sie sagten, ihre Mama brauche einen "Bären zum Kuscheln und einen Tiger zum Beschützen" und schoben sie unter ihre Hände.

Persönlicher Abschied mit Stofftieren und Buntstiften: Auch die Nichte und der Neffe bemalten den SargBild: Privat

"Damit ich mir leisten kann, zwischendurch ohne Bezahlung zu arbeiten, bin ich immer ein halbes Jahr unterwegs", berichtet die 53-Jährige. Sie verdient Geld mit Vorträgen und Fortbildungen in Deutschland, Belgien, Österreich und der Schweiz.

Online-Trauergruppe für Familie in Malaysia

Man trauert am besten in seiner Heimat und Sprache, sagt die Trauerbegleiterin. Eine deutsche Mutter, die in Malaysia lebt, bat verzweifelt um Hilfe. Ihre Tochter war überraschend gestorben. Mechthild Schroeter-Rupieper vermittelte den Kontakt zu zwei Frauen, die auch Kinder verloren haben.

Den Geschwistern des toten Mädchens schickten Jugendliche aus einer Trauergruppe ein Video, in dem sie von sich erzählten: "Bei mir ist der Papa im Keller gestorben, das war am Anfang ganz schlimm." Die Kinder in Malaysia antworteten. Der Austausch tat beiden Seiten gut. Die Mutter hat mittlerweile selbst eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht.

Menschen wie sie machen Mechthild Schroeter-Rupieper Mut: Menschen, die nach einem Verlust Hilfe suchen und Veränderungen wagen. Trauerbegleitung ist eine lebendige Arbeit, sagt sie. Immer wieder spricht und schreibt sie darüber: "Todesmutig" auf Youtube und auf Facebook, wo ihr mehr als 17.000 Menschen folgen.

"Herzen wachsen wieder zusammen"

Am nächsten Tag geht es in einen Kindergarten: Kurz nacheinander sind drei Elternteile gestorben, das verunsichert Kinder wie Erwachsene. Die Leiterin ermöglicht Eltern, mit Mechthild Schroeter-Rupieper darüber zu sprechen. Gekommen sind neun Frauen, darunter mehrere muslimische Mütter aus der Türkei, eine aus Libyen. Einige wirken nervös. "Sie gehen am Ende sicher besser nach Hause, das verspreche ich Ihnen", sagt die Trauerbegleiterin.

"Gar keine Zeit zum Weinen" - auch für muslimische Mütter ist der Austausch über Tod und Trauer wertvollBild: picture-alliance/dpa/W.Rothermel

Wichtig sei, dass Kinder traurig sein und Abschied nehmen dürfen, erläutert sie. Tue man so, als sei nichts passiert, verlören sie das Vertrauen in ihre Gefühle. Mechthild Schroeter-Rupieper erzählt von einem türkischen Mädchen (8), dessen Mama gestorben ist, die sagte: "Ich glaub, mir ist das Herz gebrochen." Sie glaube ihr, dass das so weh tue, sagte die Trauerbegleiterin und versprach ihr: "Herzen wachsen wieder zusammen." Das ist wie eine Fleischwunde, erklärt sie: Sie heilt, es bleiben Narben.

Die Frauen im Kindergarten schildern ihre eigenen Erfahrungen mit Trauer und Tod. Mit der Zeit löst sich die Anspannung: Tränen fließen, es wird auch gelacht. Die Frauen tauschen sich aus über Trauer- und Bestattungsrituale im Islam und im Christentum. Am Ende geht der Stein mit den Symbolen herum: "Ich nehme die Sonne", sagt eine Witwe, "ich fühle mich erleichtert."

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