Wiedersehen nach Jahrzehnten
20. Oktober 2015Ahn Yoon-Joon hatte nicht mehr daran geglaubt, dass dieser Tag kommen würde: Im Oktober bekam er einen Anruf vom Roten Kreuz. Man informierte ihn darüber, dass seine Familie ausgewählt worden sei, an den in dieser Woche stattfindenden Treffen mit Verwandten von der anderen Seite der innerkoreanischen Grenze teilzunehmen.
Der 86jährige pensionierte Beamte, der heute in Seoul lebt, war 1950 während des Korea-Krieges aus seiner nordkoreanischen Heimatstadt geflohen, seitdem ist der Kontakt abgerissen. "Ich habe mich auch bei den letzten Familientreffen Anfang 2014 beworben, bin aber nicht ausgelost worden. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass es mit einem Wiedersehen noch klappen könnte", erzählt er.
Erstes und meist letztes Wiedersehen
Nach Angaben des südkoreanischen Roten Kreuzes, das die Familientreffen seit der ersten Runde im Jahr 2000 betreut und gemeinsam mit Ansprechpartnern auf der anderen Seite organisiert, warten noch immer rund 66.000 Südkoreaner auf ein Wiedersehen mit ihren Verwandten im Norden. Die meisten Bewerber sind älter als 70 Jahre.
Nach dem Ende des dreitägigen Treffens kehren die Familien an ihren jeweiligen Wohnort zurück – mit dem Wissen, dass das die vermutlich einzige Chance war, ihre Brüder, Schwestern oder Kinder zu sehen oder auch nur mit ihnen zu sprechen. Denn Telefonkontakt zwischen den beiden Teilen der Halbinsel ist nach wie vor verboten.
Ein bittersüßes Treffen – mit strengen Regeln
Ahn Yoon-Joon wird gemeinsam mit seiner Frau und dem einzigen Sohn in das nordkoreanische Erholungsgebiet Kumgang reisen, um dort seine beiden jüngeren Schwestern zu treffen. Doch die strengen Umgangs-Regeln, die bei diesen Familienzusammenführungen gelten, haben seine Vorfreude getrübt. "Als ich sie gelesen habe, habe ich angefangen zu weinen", sagt Ahn. "Ich habe fast 70 Jahre auf diesen Moment gewartet. Und jetzt soll ich noch nicht einmal fragen dürfen, wie es meinen Schwestern in all diesen Jahren ergangen ist? Wo ist da der Sinn?"
Auf dem Merkblatt, das alle südkoreanischen Teilnehmer vorab bekommen haben, wird unter anderem darauf hingewiesen, dass sie nicht über Dinge wie Nahrungsmittelknappheit sprechen dürfen. Und auch politische Themen sind tabu. Daneben gibt es auch eine Liste mit erlaubten Geschenkartikeln: beispielsweise Unterwäsche, Winterkleidung oder Zahnbürsten.
Diese Regeln seien aus verschiedenen Gründen aufgestellt worden, erklärt Park Hee-Jin aus der Kommunikationsabteilung des südkoreanischen Roten Kreuzes. Zum Einen aus Sorge vor einer kurzfristigen Absage von Familientreffen, zum Anderen auch aufgrund der "verschiedenen Blickwinkel auf sensible Themen".
Ein Erbe der "Sonnenscheinpolitik"
Die Familientreffen gibt es seit den 80er Jahren. Zunächst fanden sie nur sporadisch statt. Unter der sogenannten "Sonnenscheinpolitik" von Präsident Kim Dae-Jung wurden sie dann in den Jahren nach 2000 zeitweise zu einer regelmäßigen Institution. Geschätzt rund 16.000 Südkoreaner hatten bislang die Gelegenheit, ihre Verwandten aus dem Norden zu sehen, entweder persönlich auf nordkoreanischem Staatsgebiet oder per Videokonferenz.
Die südkoreanische Regierung und das Rote Kreuz weisen wiederholt darauf hin, dass sie immer wieder an Nordkorea appelliert hätten, mehr derartige Familientreffen zu erlauben – allerdings ohne Erfolg. Denn Nordkorea – in diesem Punkt sind sich viele Nordkorea-Beobachter einig – benutzt das hochemotionale Thema der auseinandergerissenen Familien als Druckmittel, um den Süden zu wirtschaftlichen Zugeständnissen zu bewegen.
Taktieren bis zum Äußersten, Spiel mit den Emotionen
"Nordkorea hat wirtschaftlich gesehen nicht viel Macht", erklärt Jasper Kim, Professor für Internationale Beziehungen an der Ewha Women's University in Seoul. Aber das Land setze alles daran, stets das bestmögliche Ergebnis für sich zu erzielen. "Pjöngjang nutzt ganz gezielt seine Entscheidungsgewalt, ja zu den Familientreffen zu sagen – oder eben auch nicht. Das erleben wir Jahr für Jahr aufs neue."
Für Shim Gu-Seop von der Inter-Koreanischen Vereinigung getrennter Familien ist das Eingehen auf nordkoreanische Forderungen ein notwendiges Übel. Der 81jährige hat selbst auf eigene Faust Dutzenden Südkoreanern geholfen, mit Hilfe chinesischer Mittelsmänner Kontakt zu ihren nordkoreanischen Verwandten herzustellen: durch Handys, Briefe oder Pakete, die über die Grenze geschmuggelt wurden.
Aber es liege in der Verantwortung der südkoreanischen Regierung, dafür zu sorgen, dass die seltenen Familienzusammenkünfte häufiger stattfinden und die Betroffenen auch danach in Kontakt bleiben könnten, meint er. Egal zu welchem Preis. "Selbst wenn Südkorea dem Norden insgeheim Hilfe zukommen lassen würde, wäre das die Sache wert, dass sich mehr auseinandergerissene Familien wiedersehen können.
Anspannung vor dem großen Tag?
Obwohl er so lang auf diesen Moment gewartet hat – nervös ist Ahn Yoon-Joon nicht vor dem Wiedersehen mit seinen Schwestern. Er fühle sich bereit für ihre Fragen, sagt er. Auch, wenn er schon im Vorfeld enttäuscht ist von den strengen Regeln.
"Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wiedersehen, und ich darf viele Dinge, über die ich gern mit meinen Schwestern reden würde, nicht ansprechen", sagt er resigniert. "Wahrscheinlich werde ich einfach nur in ihre Gesichter schauen."