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"Fast immer ist Alkohol im Spiel"

11. März 2003

- Selbstmordrate in Russland erschreckend hoch

Moskau, 11.3.2003, ISWESTIJA, russ., Anastasia Naryschkina

(...) Die Selbstmordrate ist in Russland ungeheuerlich hoch: im Jahr 2000 begingen 56 900 Menschen Selbstmord, im Jahr 2001 – 57 200 Menschen. Das heißt, dass von 100 000 Menschen entsprechend 39,3 und 39,7 Personen freiwillig ihrem Leben ein Ende bereiten. Diese Zahl übersteigt die Zahl der Personen, die ermordet werden (entsprechend 28,3 und 29,3 Personen von 100 000). Was Morde angeht, so rangiert Russland neben Südafrika und Kolumbien unter den ersten drei.

Die Selbstmordrate ist der Spiegel der Gesellschaft, da sie deutlich macht, wie diese Gesellschaft sich fühlt. So stieg sie zum Beispiel nach der Revolution, um das Jahr 1922, rapide an. Im Jahr 1926 hatte die Zahl der Selbstmorde in Moskau und Petersburg unvorstellbare Ausmaße erreicht: 41,8 unter den Männern und 19,5 unter den Frauen. (...) Dem folgten zwei weitere Sprünge in den Jahren 1937 und 1947. Während der "Tauwetterperiode" war ein gewisser Rückgag zu beobachten. Zu einem rapiden Anstieg der Selbstmordrate kam es im Jahr 1984 (38,7 von 100 000 Personen), als Russland den zweiten Platz nach Ungarn einnahm.

In den Jahren der Perestroika geht die Selbstmordrate rapide zurück – auf 23,1 Personen. Leider nur für einige Jahre. 1988 beginnt alles von neuem, im Jahr 1994 steigt die Zahl der Selbstmorde fast um das Zweifache. Das heißt, dass 2,7 Prozent aller Verstorbenen im Land Selbstmord begangen haben. Zum Vergleich: in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts betrug deren Anteil 0,06 bis 0,09 Prozent. (...)

Die große Liebe gibt es natürlich auch in unseren Tagen, aber gewöhnlich setzt man ihretwegen nicht dem Leben ein Ende. Davon sprechen auch die Zahlen. Unter den Selbstmördern überwiegt die Zahl der Männer, die meisten begehen im Alter zwischen 40 und 59 Jahren Selbstmord. Die Soziologen Wojzechowitsch und Redko heben zwei Haupttypen der Selbstmörder hervor. Der erste ist der trinkende, geschiedene, einsame und womöglich auch vorbestrafter Mann im Alter zwischen 20 und 59 Jahren. Der zweite Typ ist die verheiratete Frau über 60, häufig krank oder arbeitslos. Von Romantik keine Rede... Bekannt ist, dass Verheiratete viel seltener ihrem Leben ein Ende setzen als Alleinstehende oder Geschiedene. Unter den Verwitweten ist die Zahl sogar um das Dreifache höher als unter den Verheirateten. Es sieht so aus, als ob auch der schnelle Verlust des sozialen Status (...) zu Selbstmorden führt. So neigen zum Selbstmord aus dem Dienst ausgeschiedene Offiziere, junge Soldaten und Häftlinge. Die größte "Risikogruppe" sind psychisch Kranke (die Selbstmordrate liegt bei Städtern bei 92,2 Personen), Alkoholiker (91), Drogenabhängige (178) und Behinderte (110 von 100 000).

Der größte Risikofaktor ist jedoch der Alkohol. Er wurde im Blut von 60 Prozent der Selbstmörder entdeckt. Dabei waren 40 Prozent regelrecht betrunken.

Dmitrij Bogojawlenskij, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Russischen Wissenschaftsakademie: "Es liegt am Alkohol"

Bogojawlenskij:

Es liegt am Alkohol. Die Frage ist jedoch, wieso trinken die Leute, und wieso trinken sie in diesen Mengen... An Silvester gibt es die meisten Alkohol-Toten. Im Jahr 2000 waren es besonders viele. Gleichzeitig nahmen die Selbstmorde und Morde ein wenig zu. Das zeugt noch einmal davon, dass die meisten Probleme etwas mit Alkohol zu tun haben.

Frage:

Welchen Einfluss hat die wirtschaftliche Lage auf die Selbstmordrate?

Antwort:

In einer wirtschaftlichen Rezession steigt sie in allen Ländern ein wenig. In unserem Land ist ein leichter Zusammenhang zwischen der Selbstmordrate und dem Anteil der verlustbringenden Betriebe in der Region zu beobachten. Ausschlaggebend ist jedoch die Tendenz, die sich 1955 abzuzeichnen begann. Davon ausgehend liegt die jetzige Rate sogar unter dem, was anzunehmen war.

Frage:

Die Selbstmordrate ist in den Städten höher als auf dem Lande: jweils 36,3 und 20,9 Menschen. Sind gebildete Personen, deren es in den Städten mehr gibt, denn stärker selbstmordgefährdet?

Antwort:

Menschen mit höherem Bildungsniveau neigen weniger zum Selbstmord. Am stärksten gefährdet sind Menschen mit Mittelschulbildung. (...) (lr)