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Gesellschaft

"Das Problem ist nicht nur der Zölibat"

13. März 2019

Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in beiden christlichen Kirchen ist nach einer Studie größer als bisher angenommen. Die Opfer bleiben sich weitgehend selbst überlassen, kritisiert Studienleiter Fegert im DW-Interview.

Symbolbild Kindesmissbrauch
Bild: picture alliance / ZB

"Das ist nur die Spitze des Eisbergs", sagten Wissenschaftler aus Mannheim, Gießen und Heidelberg in einer gemeinsamen Studie vom vergangenen Herbst. Damals legten sie eine von der katholischen Kirche beauftragte Studie zum sexuellen Missbrauch von Kindern vor. Ihre Befürchtung bestätigt nun eine Untersuchung der Universität Ulm. Demnach ist die Zahl der Missbrauchsfälle bis zu 30 Mal so hoch wie bisher angenommen. Der Ulmer Studienleiter Jörg Fegert und seine Kollegen befragten 2516 Personen nach ihren Erfahrungen in Kindheit und Jugend. 0,16 Prozent von ihnen gaben an, in einer Einrichtung der katholischen Kirche missbraucht worden zu sein, ebenso viele in einer Einrichtung der evangelischen Kirche. Auf die deutsche Gesamtbevölkerung hochgerechnet bedeutet das: 114.000 Kinder könnten Opfer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche geworden sein und noch einmal so viele in der evangelischen Kirche.

DW: Herr Fegert, in der von Ihnen geleiteten Studie gehen Sie davon aus, dass es in den beiden christlichen Kirchen zusammengerechnet bis zu 230.000 Missbrauchsfälle gegeben hat. Hatten Sie ein solches Ergebnis erwartet?

Studienleiter Jörg Fegert hofft auf eine bessere Opfer-BetreuungBild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Jörg Fegert: Eigentlich schon. Wir haben seit vielen Jahren Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch in Deutschland. Am häufigsten findet Missbrauch in der Familie statt. Aber wir haben auch überall dort, wo es Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse gibt, eine große Zahl an Missbrauch: im Sport, in Chören, in Schulen und eben auch in Einrichtungen der beiden Kirchen.

In Ihrer Untersuchung kommen sie auf bis zu 30 Mal so hohe Zahlen wie die Studie, die die deutschen Bischöfe im vergangenen Herbst präsentiert hatten. Damals wurden allerdings nur jene Fälle untersucht, die in Kirchenakten registriert und entsprechend untersucht worden waren. In Ihrer Untersuchung geben Sie nun einen Einblick in das Dunkelfeld, also auch der nicht angezeigten und registrierten Fälle. Ergibt sich nun ein vollständiges Bild?

Schon eher. Ich würde mir natürlich größere Untersuchungen wünschen als die, die wir selber mit Bordmitteln realisieren können. Aber bei jeder repräsentativen Befragung kann man aufgrund der Zahl der Antworten ausrechnen, wo der wahre Wert liegt. Insofern hat man ein Sicherheitsintervall, von dem man sagen kann: Es ist mindestens zehnmal so viel, vielleicht sogar hundertmal so viel. Hätten wir größere Zahlen befragt - nicht nur 2500 Menschen, sondern 20.000 oder sogar 200.000 - dann könnte man den Bereich stärker einengen. Unser Ziel ist es, dass man die wahrgenommenen und tatsächlich erlebten Taten einander annähert, indem man mehr Bereitschaft weckt, darüber zu sprechen und darauf einzugehen.

Bisher hat sich der Fokus beim sexuellen Missbrauch von Kindern vor allem auf die katholische Kirche gerichtet. Tatsächlich rechnen Sie damit, dass es genau so viele Fälle in der evangelischen Kirche gibt. Sind wir auf einem Auge blind gewesen?

Ich glaube, dass das zum Teil an den Organisationsstrukturen liegt und historisch kamen die ersten Fälle aus der katholischen Kirche. Der Missbrauchsskandal 2010 startete durch den mutigen Schritt von dem Jesuitenpater Klaus Mertes, der im Canisius-Kolleg in Berlin die Betroffenen ernst genommen hat. Das ist der Startpunkt gewesen. Deshalb stand die katholische Kirche lange Zeit im Zentrum dieser Debatte. Aber wie ich vorhin sagte, überall wo es Nähe-Verhältnisse gibt wie im Sport können diese von Tätern missbraucht werden. Insofern ist es wichtig, die Strukturen anzuschauen und vielleicht weniger darüber zu rätseln, warum etwas jetzt in der einen oder anderen Kirche stattfindet.

Proteste gegen sexuellen Missbrauch bei der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen BischofskonferenzBild: DW/Christoph Strack

Im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche wird immer wieder über den Zölibat diskutiert. Wie beurteilen sie die Rolle der Verpflichtung zur Ehelosigkeit?

Als Wissenschaftler habe ich von Theologie wenig Ahnung und letztendlich kaum Verständnis für viele Anteile der katholischen Sexualmoral. Festzustellen ist, dass in den letzten 30 bis 40 Jahren eine größere Rigidität eingezogen ist. Angefangen mit der Enzyklika Humanae Vitae und ihrer ablehnenden Einstellung zur Wiederverheiratung. Man konnte mit Moraltheologie auch keine theologischen Karrieren machen. Es sei denn, man war auf der sehr rigiden Linie. Das führte dann vielleicht auch zu einem Doppelleben, zu einer dunklen Seite. Insofern würde ich die Problematik nicht allein auf den Zölibat reduzieren. Die Kirche sollte eine Sprache zu den Themen der Zeit finden. Deshalb war ich schockiert über die Rede des Papstes am Ende des sogenannten Missbrauchs-Gipfels. Wenn Bilder heidnischer Rituale bemüht werden, drückt das eine ziemliche Hilflosigkeit aus.

Finden Sie, dass sich die Kirchen der Dimension des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger bewusst sind und sich ihrer Verantwortung im ausreichenden Maß stellen?

Jetzt muss ich mal was Positives über die katholische Kirche sagen. Sie hat nach dem sogenannten Missbrauchsskandal 2010 sehr früh flächendeckend angefangen, Schutz-Konzepte auszuarbeiten, Mitarbeiter zu trainieren und auszubilden. Die katholische Kirche hat sehr viel unternommen, um ein Bewusstsein zu schaffen.

Was fehlt, ist ein wirklich adäquater Umgang mit den Betroffenen. Das hat man jetzt auch bei dem Missbrauchs-Gipfel gesehen. Wir haben im weltlichen Recht klare Opfer-Schutzrechte bis hin zur Nebenklage, so dass Betroffene am Prozess teilnehmen können. Die kirchlichen Verfahren dagegen sind nach wie vor intransparent und es geht mehr um den beschuldigten Priester, um die Einrichtung Kirche. Aber wo ist der Ort für Betroffene - sowohl in der Kirche und im Gemeindeleben wie in den Verfahren, die transparent werden müssen? Wie sorgt man dafür, dass Betroffene selbst stärker dazugehören und ihre eigenen spirituellen Bedürfnisse in einer Kirche, in der sie sich auch wieder wohlfühlen können, erfüllt sehen? Die Kirche sollte alles dafür tun, dass es Therapien und Unterstützung gibt, die das Schlimmste zwar nicht ungeschehen machen, aber helfen, wieder am Leben teilzuhaben.

Das Gespräch führte Ralf Bosen.

Professor Jörg M. Fegert ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Er leitet auch das Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg und berät die katholische Kirche seit mehr als 15 Jahren beim Thema Missbrauch Minderjähriger.

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