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GesellschaftKosovo

Femizide in Kosovo: Warum starben Erona C. und Gjyljeta U.?

Vjosa Cerkini (aus Pristina)
8. Mai 2024

Im April wurden in Kosovo innerhalb von fünf Tagen zwei Frauen von ihren Partnern ermordet. Viele Kosovaren sind entsetzt - und fühlen sich bestätigt: Noch immer schützt das Westbalkanland Frauen zu wenig vor Gewalt.

Ein Plakat mit der Aufschrift "Das Problem ist, dass das Patriarchat nicht möchte, dass wir Lösungen haben".
Plakat bei Protest in Kovoso: "Das Problem ist, dass das Patriarchat nicht möchte, dass wir Lösungen haben"Bild: Vjosa Çerkini/DW

Gerade einmal 21 Jahre alt war die junge Mutter Erona C. aus Ferizaj, als sie von ihrem Ex-Mann getötet wurde. Er hatte sich mit ihr getroffen, um das gemeinsame Kind zurückzubringen. Nach der Übergabe zog er plötzlich eine Waffe, erschoss seine Ex-Frau und verletzte ihren Bruder, der sie begleitete.

Gjyljeta U. aus Peja, Mutter von drei Kindern, wurde nur 42 Jahre alt. Ihr Mörder stellte sich der Polizei offiziellen Angaben zufolge mit den Worten: "Ich habe meine Frau erschossen."

Beide Frauen, Erona C. und Gjyljeta U., wurden in Kosovo im April 2024 getötet - innerhalb von fünf Tagen. Ihre Ermordungen lösten im Land Entsetzen aus. Präsidentin Vjosa Osmani rief einen Tag der Staatstrauer aus, um der Frauen und Mädchen zu gedenken, die in Kosovo Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind.

Doch auch wenn viele Kosovaren entsetzt waren - überrascht dürften die wenigsten gewesen sein. Denn schon lange prangern Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen die strukturellen Missstände an, die dazu führen, dass Frauen in Kosovo immer wieder zu Opfern von Gewalttaten werden. Viele fragen sich: Was muss noch passieren, bis sich endlich etwas ändert?

Geringe Strafen für Täter

Dabei gab es auf dem Papier in den vergangenen Jahren immer wieder positive Entwicklungen. Seit 2019 ist häusliche Gewalt in Kosovo strafbar. Gerichte können Täter mit Geldstrafen von 100 bis 25.000 Euro belegen und zu Haft von bis zu drei Jahren verurteilen. Aber bis heute fallen viele Urteile lasch aus. Der Fall von Gjyljeta U. ist ein Musterbeispiel dafür. Gjyljeta U.s späterer Mörder war wegen häuslicher Gewalt polizeibekannt, wurde 2022 deswegen bereits einmal zu drei Monaten Gefängnis und 100 Euro Strafe verurteilt. Gegen eine Zahlung von 300 Euro kam er um die dreimonatige Haft herum.

Justizministerin Albulena Haxhiu schrieb nach der Tat auf Facebook: "Täter werden oft zu Mördern, weil sie von den zuständigen Institutionen nicht angemessen bestraft werden." Sie rief ein Krisentreffen mit dem Innenminister, Polizeichef, Generalstaatsanwalt und weiteren Offiziellen ein.

Justizministerin Albulena Haxhiu rief nach dem Bekanntwerden des zweiten Femizids innerhalb von fünf Tagen eine Sondersitzung einBild: Bekim Shehu/DW

Doch Aktivisten kritisieren, dass solche kurzfristigen Einsichten nichts am weitverbreiteten Klima der Straflosigkeit bei häuslicher Gewalt ändern, das auch unter der aktuellen Regierung weiter besteht. "Wir brauchen ein stärkeres Justizsystem, schnellere Verfahren und öfter die Höchststrafen für die Täter", sagt die Soziologin Bukurie Rrustemi.

Polizei nimmt häusliche Gewalt nicht ernst

Laut offizieller Polizeistatistik wurden im Jahr 2023 im 1,8-Millionen-Einwohnerland Kosovo vier Frauen bei Femiziden ermordet und 2120 Frauen misshandelt. Es gilt als wahrscheinlich, dass die eigentliche Zahl der Fälle noch höher ist. Denn viele Frauen trauen sich nicht, die Täter anzuzeigen - auch, weil sie befürchten müssen, dass sie von Polizei und Justiz nicht ernstgenommen werden. In einer im August 2023 veröffentlichten Befragung von Amnesty International erzählen Opfer von häuslicher Gewalt etwa, dass ihnen von der Polizei gesagt worden sei, das gewalttätige Verhalten ihrer Partner sei völlig normal. Einschüchterungen, Drohungen und psychische Gewalt seien meist weggewischt worden, oft sei die Polizei erst dann eingeschritten, wenn es offensichtliche Hinweise auf körperliche Gewalt gegeben habe, wie blaue Flecken.

Psychologin Kaltrina Ajeti kritisiert, dass Opfern durch das Verhalten der Behörden das Gefühl gegeben werde, sie seien für die Gewalt mitverantwortlichBild: Vjosa Çerkini/DW

Meist werde den Opfern zudem eine Teilschuld an der Situation gegeben - mit schwerwiegenden Folgen, sagt Psychologin Kaltrina Ajeti: "Die Opfer denken oft, dass sie selbst zur Schaffung einer solchen Situation beigetragen haben - also den Täter zu anhaltender Gewalt verleitet und damit zur Zerstörung der Familie genötigt haben."

Diese Denkweise sei nicht nur bei der Polizei, sondern auch in der kosovarischen Gesellschaft an sich noch immer weit verbreitet.

Ein gewaltfreies Leben? Unbezahlbar

Die kosovarische Gesellschaft und ihre tief im Patriarchat verwurzelte Struktur ist wohl auch einer der Hauptgründe für Femizide. "Die Rolle der Frau in Kosovo ist die der Hausfrau und Betreuerin von Kindern, Ehemann und den Alten in der Familie", sagt Soziologin Bukurije Rrustemi. Die männliche Dominanz in weiten Teilen der Gesellschaft sei für viele Frauen bis heute kaum überwindbar. "Es mangelt ihnen an Bildung, Beschäftigung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit", sagt Rrustemi.

"Kaum Auswege für Frauen" - Soziologin Bukurije Rrustemi über die kosovarische GesellschaftBild: Vjosa Çerkini/DW

Zana Asllani, Leiterin des Frauenhauses in Pristina, bestätigt, dass viele Frauen, die den Mut haben, ihren gewalttätigen Ehemann zu verlassen, später aus rein wirtschaftlichen Gründen zu ihm zurückkehren. Sie können sich ein unabhängiges Leben schlicht nicht leisten, da sie oft über kein eigenes Einkommen verfügen. 2021 waren etwa 50 Prozent der kosovarischen Männer formell angestellt. Bei den Frauen waren es nur 17 Prozent.

Es gibt kaum Möglichkeiten, sich ein finanziell unabhängiges Leben aufzubauen. Eigentum ist überwiegend im Besitz von Männern. Selbst von einer Erbschaft sind Frauen in der Regel ausgenommen: Vor dem kosovarischen Gesetz sind Brüder und Schwestern zwar zu gleichen Teilen erbberechtigt. In der Praxis gilt aber meist die Tradition: Nur die männlichen Nachfolger erben, die Frauen gehen leer aus. Denn sie heiraten ja in die Familie ihres Ehemannes ein - und verlassen damit ihre Herkunftsfamilie, verlieren dadurch ihr Mitspracherecht und auch ihren Anspruch auf ein Erbe.

Viele Kosovarinnen haben bis heute keine Chance auf Erbe, Eigentum, Teilhabe - und haben damit auch keinen Ausweg, wenn es zu Gewalt in der Partnerschaft kommt Bild: Vjosa Çerkini/DW

Eine Rückkehr ins Elternhaus - selbst nach erlittener Gewalt - lässt die Tradition oft nicht zu. Wenn die Frauen in die Familie ihres Ehemannes einheiraten, gehören sie damit praktisch ihrem Mann. Frauen, die nach einer solchen Ablehnung durch die Familie zu ihren Partnern zurückkehren, leiden in der Folge oft unter posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen, sagt Psychologin Kaltrina Ajeti. Die Täter fühlen sich dagegen meist bestärkt. "Der Täter ist sich nun bewusst, dass seine Partnerin keine Wahl und keinen anderen Ausweg hat."

Ein Balkan-Phänomen?

Diese Situation lasse sich nicht nur in Kosovo beobachten, sagt Soziologin Bukurije Rrustemi. "Auf dem Balkan gibt es überall Fälle von Femiziden. Die patriarchalische Gesellschaft ist überall auf dem Balkan ähnlich - man könnte von einer Balkan-Mentalität sprechen." Verstärkt werde die Situation durch die allgegenwärtige Erfahrung von Gewalt während der Balkankriege und die teils schwierige sozioökonomische Situation. Dazu kommen noch weitere Auslöser für Gewaltexzesse, die auch in anderen Ländern beobachtbar sind. Soziologin Bukurije Rrustemi nennt psychische Probleme wie Psychosen, Depressionen und andere unbehandelte psychische Probleme der Täter, Drogen- und Alkoholkonsum sowie soziale Gründe. "Gewalt im Fernsehen und in sozialen Netzwerken, insbesondere Hate-Speech, lässt zudem die Hemmschwelle bei den jungen Männern sinken", sagt sie.

Am schwersten und nachhaltigsten aber wiege der patriarchale Aspekt, betont sie. Jeder Versuch einer Frau, etwas an dieser Situation zu ändern, werde von den Männern blockiert.

Vjosa Cerkini Themen: Kosovo, die anderen Westbalkan-Länder und deren Verbindungen zum Westen