Femizide: Frauen brauchen mehr Schutz vor tödlicher Gewalt
30. Oktober 2024Wer ist gefährlich für eine Frau? Der Fremde im dunklen Park? Tatsächlich sind es oft sehr vertraute Männer - Partner und Ex-Partner -, die misshandeln und töten. Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland, seine (Ex-)Partnerin zu töten, sehr oft gelingt es.
155 Frauen wurden nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) im Jahr 2023 von ihren (Ex-)Lebensgefährten getötet.
Der Mann von Diana B. (Name geändert) hat ihr immer wieder gedroht, sie zu töten, berichtet sie der DW. Ihr richtiger Name und ihr Aufenthaltsort müssen geheim bleiben. Das Familiengericht hat ihrem Mann jede Annäherung verboten. Doch sie hofft, dass er sie erst gar nicht findet. Er hat sie jahrelang geschlagen, gewürgt und schließlich schwer verletzt. Weil es vorher keine Anzeige gegen ihn gab, galt er vor Gericht als Ersttäter und erhielt nur eine Bewährungsstrafe.
Ihre Rechtsanwältin Corinna Wehran-Itschert erinnert sich an ein anderes Paar mit mehreren kleinen Kindern. Trotz Kontaktverboten verfolgte der Mann mehr als zwei Jahre nach der Trennung immer wieder die junge Mutter: "Der Mann hat der Frau im Hausflur aufgelauert - und sie getötet. Das war fürchterlich."
Diana B. hat nach acht Monaten Schutz und Unterstützung im Frauenhaus Koblenz für sich und ihre Kinder ein neues Leben an einem neuen Ort aufgebaut. Sie hat überlebt - hunderte Frauen sind tot.
Femizide: Ministerin Paus "betroffen und wütend"
"Wenn Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind, müssen wir diese Taten auch als das bezeichnen, was sie sind, nämlich Femizide", sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die Sozialdemokratin betont: "Diese Femizide dürfen nicht als sogenannte Beziehungstragödie oder Eifersuchtsdramen verharmlost werden." Femizid ist in Deutschland kein eigener Straftatbestand, die Täter können wegen Mord oder Totschlag verurteilt werden.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus stellt im Sommer fest: "Zwei Femizide in Berlin in einer Woche - jeden zweiten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. Das macht mich sehr betroffen und wütend." Die Grünen-Politikerin fordert: "Wir brauchen nicht nur ein Sicherheitspaket gegen terroristische Messerstecher, sondern auch für die Prävention und den Schutz von Frauen vor Gewalt."
Brandbrief: Ohne Gewalthilfegesetz sterben Menschen
Helfen Appelle? Frauen tanzen als weltweite "One-Billion-Rising-Bewegung" (14.2.), sie protestieren bei der UN-Kampagne "Orange the World"vom Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25.11.) bis zum Tag der Menschenrechte (10.12.).
Und die Regierung? In einem Brandbrief schreiben Verbände und weit über 30.000 Einzelpersonen: "Sie haben im Koalitionsvertrag angekündigt, ein Gesetz zu schaffen, das Betroffene besser vor Gewalt schützt." Ministerin Paus hat ein Gewalthilfegesetz erarbeitet, doch es steckt fest in der Abstimmung zwischen den Ministerien.
Die Unterzeichnerinnen mahnen: "Ohne das Gewalthilfegesetz werden weiterhin Menschen sterben, werden weiterhin Menschenleben zerstört - weil ihnen der Schutz verwehrt bleibt, den sie so dringend brauchen!"
Frauenhäuser: viel zu wenig Plätze und Geld
Rund 14.000 Plätze für Frauen und Kinder in Frauenhäusern fehlen Deutschland nach der Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Eine Studie ergab, dass viel zu wenig investiert wird: 300 Millionen Euro statt der empfohlenen Ausgaben für Prävention und Gewaltschutz von bis zu 1,6 Milliarden Euro pro Jahr.
Über die freiwillige Finanzierung entscheidet jedes Bundesland und jede Kommune immer neu. Das kritisiert Alexandra Neisius. Sie leitet das Frauenhaus in Koblenz, in dem Diana B. und ihre Kinder Hilfe fanden. Mit 115.000 Einwohnern bräuchte die Stadt elf bis zwölf Schutzräume. Es gibt sieben - viele Frauen müssen abgewiesen werden. Wenn sie dem Portal "Frauenhaussuche" einen freien Platz melde, sei er in ein bis zwei Stunden belegt, sagt Neisius.
Polizei: "Wir müssen handeln"
Das Koblenzer Frauenhaus hat erfolgreich Sondermittel für einen An- und Umbau beantragt. Zwei neue Familienzimmer soll es geben und ein Zimmer für Notfälle. Geld für zusätzliches Personal ist nicht bewilligt - es wird aber dringend benötigt für die sozialrechtliche und traumasensible Beratung.
Im Notzimmer sollen Polizei oder Jugendamt kurzfristig gefährdete Frauen unterbringen können. Manche Frauen rufen die Polizei, andere kommen selbst mit Kindern und Gepäck, weil sie Angst vor ihrem Partner haben, berichtet Gabriele Slabenig. Bei der Polizei Koblenz ist sie zuständig für häusliche Gewalt: "Da gibt es eine reale Bedrohung, die dahintersteht. Wir müssen handeln." Sie bearbeitet 150 bis 200 Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen im Jahr und überwacht Hochrisikofälle.
"Es kamen immer mehr Frauen, die gesagt haben: Ich brauche Schutz, ich kann nicht mehr nach Hause, ich werde geschlagen, ich werde mit dem Tode bedroht." Frauenhausplätze seien selten schnell oder in der Nähe verfügbar. Die Polizei Koblenz fährt manche Frauen 200 bis 300 Kilometer weit. Experten untersuchen ihre Handys, um Ortungs- und Spionagesoftware zu entfernen.
Frauen müssen Platz im Frauenhaus bezahlen
Frauenhaus-Leiterin Neisius kritisiert, dass Frauen den Aufenthalt selbst bezahlen müssen, wenn sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Zusammen mit einem Förderverein versucht sie, Betroffenen mit Spendengeldern zu helfen. Die bundesweite Frauenhausstatistik stellt fest, dass vor allem Frauen, die ihren Aufenthalt selbst zahlen müssen, in die Gewaltsituation zurückkehren.
Ein Entwurf für das Gewalthilfegesetz, der der DW vorliegt, spricht von einem einklagbaren "Anspruch auf Schutz und rechtliche Beratung" - kostenfrei für alle Betroffenen. Das würde Deutschland zwingen, genug Plätze zu schaffen und zu finanzieren.
Ausweg aus Angst und Gewalt
Diana B. hatte Glück im Unglück. Bei der letzten schweren Misshandlung durch ihren Mann konnte sie stark blutend in ein Geschäft fliehen, wo sich andere Männer schützend vor sie stellten. Nach Operation der Knochenbrüche im Gesicht und der Zeit im Krankenhaus bekam sie mit ihren Kindern ein Zimmer im Frauenhaus in Koblenz.
Die Adresse ist anonym, der Eingang wird von Kameras überwacht. Mutter und Kinder konnten nach Jahren voller Gewalt und Angst zur Ruhe kommen. Sie lächelt, als sie davon erzählt, vom Respekt, mit dem man ihr hier begegnet ist.
Ihr Mann hatte sie krankenhausreif geschlagen und immer wieder versprochen, das nie wieder zu tun. Sie wollte ihren Kindern die Familie erhalten. Das sei typisch für viele Mütter, beobachtet Alexandra Neisius.
Gewalt gegen Frauen gibt es in allen gesellschaftlichen Gruppen. Im Frauenhaus sei der Anteil an Migrantinnen höher, weil sie mehr Unterstützung brauchen, sagt Neisius: "Die haben oft keine Familie hier, die ihnen hilft, sie können die Sprache nicht gut, kennen die rechtlichen Regelungen nicht."
Eskalation der Gewalt nach der Trennung
Diana B. hatte vor der Eskalation gehofft, sich mit einer Trennung aus der Gewalt befreien zu können. Damit ihr Mann zustimmte, zog sie eine Anzeige gegen ihn zurück. Sie lebte allein mit den Kindern, doch die Gefahr war nicht vorbei, berichtet sie: Bei der Geburtstagsfeier für ihren Sohn tauchte ihr Mann auf. Er zerrte sie an den Haaren in den Keller, drohte sie zu töten, würgte sie stark. Ihre Tochter war ihnen gefolgt: "Bitte Papa, lass Mama, lass, lass, bitte lass!", weinte sie.
Als ihr Mann Diana B. wegstieß, stolperte sie nach oben, richtete ihre Haare, schminkte sich und kümmerte sich um den Kindergeburtstag für ihren Sohn. Ihre Schmerzen habe sie erst später gespürt, sagt sie. "Das sind sehr starke Frauen", betont Neisius.
Es sind Frauen in großer Gefahr. Trennung, Todesdrohung, Würgen, diese Merkmale sprächen für ein hohes Tötungsrisiko, sagt Gabriele Slabenig von der Polizei Koblenz, ebenso bestimmte Eigenschaften: "Männer, die extrem aggressiv, impulsiv sind, die kontrollierend sind, dominant, eifersüchtig."
"Bitte geht wegen der Kinder"
"Kinder, die Gewalt an der Mutter miterleben müssen, das ist wie Gewalt an den Kindern selbst", warnt Familienfachanwältin Wehran-Itschert. Eine Gefahr sei Imitation: "Entweder der Sohn fängt an zu schlagen oder sich so machomäßig zu benehmen wie der Ehemann - oder die Tochter wird Opfer."
Im Frauenhaus Koblenz werden den Kindern Gewaltfreiheit und andere Rollen vermittelt, für die Jungen kommt ein Sozialpädagoge ins Haus. Alexandra Neisius appelliert an Frauen, die wegen der Kinder beim Mann bleiben wollen: "Bitte geht wegen der Kinder."
Diana B. will ihren Mann nie mehr sehen. Sie zeigt ein Foto von ihrem Gesicht nach der schweren Verletzung. Es sei falsch gewesen, für die Kinder bei ihrem Mann zu bleiben: "Wenn es mir nicht gut geht, geht es meinen Kindern auch nicht gut." Ihrer Tochter hat sie eingeschärft, dass sie einen Mann, der sie nicht respektiert oder sogar schlägt, sofort verlassen soll.
Auf Besserung beim gewalttätigen Mann zu hoffen, sei nicht der richtige Weg, bestätigt Frauenhaus-Leiterin Neisius: "Es hört nicht von selbst auf."